Der letzte Satz von Hans Vorländer hallte lange nach, und das lag nicht nur an der anstrengenden Überakustik im großen Sitzungssaal des Bundesverwaltungsgerichts. Eine halbe Stunde lang hatte der Politikwissenschaftler über die Krise der Demokratie gesprochen, über das Schwinden der Akzeptanz und die sinkende Zahl demokratischer Staaten, über die Implosion des traditionellen Parteiensystems und die Angriffe der Autokraten. Eine luzide Analyse einer deprimierenden Entwicklung, die er so zusammenfasste: „Die Demokratie, wie wir sie kannten, scheint zu einem Ende gekommen zu sein.“
Natürlich wusste die Zuhörerschaft aus Justiz und Rechtswissenschaft, die auf Einladung der Internationalen Juristen-Kommission zur Tagung nach Leipzig gekommen war, schon vorher, dass die Lage ernst ist. Aber nach dem ungeschönten Fazit aus dem Munde Vorländers, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung in Dresden, konnte niemand mehr in der distanzierten Beobachterposition verharren, die ein intellektuelles Publikum gern einnimmt. Alle gehen gerade gemeinsam über eine sehr schwankende Brücke, so musste man Vorländer verstehen. Und keiner weiß, wie es drüben sein wird.
Krisen gab es immer – aber derzeit ist die Liste besonders lang
Ist die Demokratie, sind die Demokratien in der Krise? Vorländer empfahl, die Frage umzudrehen: „Wie wirken Krisen auf Demokratien?“ Denn Demokratien müssen Krisen bewältigen können. Gelingt ihnen das nicht, bricht die Akzeptanz weg. Mangelnde „Problemlösungsfähigkeit“ könne dazu führen, dass Demokratien überfordert seien und die Erwartungen der Menschen enttäuschten. Das münde erst einmal in Unzufriedenheit, könne aber auch tiefer gehen – bis hin zu einem Entzug des Vertrauens in die Demokratie.
So weit, so normal, könnte man sagen, Krisen gab es immer. Wobei die Liste derzeit besonders lang ist, Klima und Corona, Krieg und Staatsschulden – und Migration, Migration, Migration. Ein fundamentaler Wandel scheint unterwegs zu sein, er lässt aus Vorländers Sicht alte Gewissheiten zerbrechen. Unsicherheit schafft Verlustängste und ruft „politische Unternehmer“ auf den Plan, die dies für ihre Zwecke nutzen. Vorländer erinnert an die Sechziger- und Siebzigerjahre, die Zeit von Emanzipationsbewegungen und gesellschaftlichem Umbruch. Damals saß die rechtsextreme NPD in sieben Landtagen und wäre um ein Haar in den Bundestag eingezogen.
Man könnte es auch so ausdrücken: Für einen rechtsextremen Siegeszug braucht man Ostdeutschland gar nicht. Tatsächlich sparte die Leipziger Tagung auf der Suche nach den Wurzeln der Krise einen spezifischen Blick auf „den Osten“ aus. Auf die Frage der Verfassungsrichterin und Tagungsleiterin Christine Langenfeld, ob denn bei der Wiedervereinigung Fehler gemacht worden seien, antwortete der frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) mit einem schlanken Nein.
Die Probleme seien später aufgetaucht, auch, weil die ökonomischen Folgen unterschätzt worden sein. Die Erfolge der AfD in den ostdeutschen Parlamentswahlen bezeichnete de Maizière kurzerhand als europäisches Normalergebnis. „Ich würde mich sehr wundern, wenn wir das gesamtdeutsch nicht auch bekommen würden.“
„Es geht nicht mehr automatisch nach oben“, sagt Historiker Wirsching
Wenn man Andreas Wirsching zuhört, dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, dann lassen sich sogar ausgesprochen westliche Entwicklungen diagnostizieren, die zur demokratischen Pathologie führen – Stichwort Individualisierung oder, nach der Begriffsprägung des Soziologen Andreas Reckwitz, der Siegeszug der „Singularitäten“. Der standardisierte Lebenslauf der Sechzigerjahre hatte sich aufgelöst, die biografischen Optionen wurden vielfältiger, der Mensch konnte selbst über sein Geschick bestimmen. Individualisierung bedeutete einen Zuwachs an Freiheit, schuf aber eben auch Entscheidungsdruck. Wer frei entscheiden kann, kann auch falsche Entscheidungen treffen.
Die Frage lautete also: Wer kommt für die Risiken auf und für die Folgen misslingender Biografien? Wirsching sieht hier die Wurzel einer grundlegenden Veränderung: Der Staat sieht sich immer stärker den Ansprüchen der Menschen ausgesetzt, von sozialer Vorsorge bis hin zu beruflichen Aufstiegschancen. „Zur Bearbeitung dieser Fragen ist inzwischen fast immer der Staat gefordert.“ Oder eben auch überfordert.
Denn parallel dazu sind die Verheißungen der frühen Bundesrepublik verschwunden. Einst waren die Menschen durchweg nach oben gestiegen, Wirsching nennt dies den Fahrstuhleffekt. „Doch der Fahrstuhl ist kaputt, es geht nicht mehr automatisch nach oben.“ Heute müsse man stattdessen von einer Paternoster-Gesellschaft sprechen: Die einen fahren nach oben, die anderen nach unten – und zwar entkoppelt von der eigenen Leistungsfähigkeit.
Das alte Freiheitsversprechen der frühen Bundesrepublik hat mithin nur in den Köpfen überdauert, in der Wirklichkeit wird es nicht mehr eingelöst. Die Konsequenz daraus: Der Mensch zieht sich aufs eigene Ich zurück, auf die mit fortschreitender Individualisierung fragmentierten Identitäten – und erhebt aus dieser Position einen „moralischen Absolutheitsanspruch“, wie Wirsching es ausdrückte. Vorländer sprach von einer Erwartungshaltung, dass die Demokratie liefere – „Politik als Pizzaservice“. Wenn sie nicht so handle, wie der Bürger wolle, werde er zornig und gehe auf die Straße. „Autoritäre Versuchung besteht darin, dass Autokraten sagen, wir wissen, was das Volk will, und wir liefern auch.“
Die Krise der Demokratie, so darf man das zusammenfassen, liegt auch in den übersteigerten Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an den Staat – die Krise, das sind wir selbst. Dass in der Krise der Hass auf Migranten wächst, ist damit nichts anderes als der Versuch, die Schuld abzuwälzen. Dazu Wirsching: „Die populistischen und rechtsextremen Bewegungen aller Demokratien werden nicht aufhören, mit der Konzentration auf diesen einen Feind ihre Mobilisierungschancen zu erhöhen.“ Damit werde die Komplexität der modernen Welt „in schändlicher Weise“ reduziert.