Kommunalpolitik:Dort anfangen, wo es wirklich brennt

Jens Gnisa, Vorsitzender des Deutschen Richterbunds, 2019 in Berlin

Anfang des Jahres ist Jens Gnisa vom Vorsitz des Deutschen Richterbundes zurückgetreten.

(Foto: Jörg Carstensen/dpa)

Jens Gnisa war Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, nun will er die Demokratie von der Basis her erneuern - und in der Politik ganz von vorne anfangen.

Von Boris Herrmann, Berlin

Das Dach des Bahnhofsgebäudes in Lüdge war undicht. Am Donnerstag hat Jens Gnisa das renovierte Objekt besichtigt. Am Dienstag diskutierte er mit einem Kreishandwerksmeister der Kreishandwerkerschaft Paderborn-Lippe über die Auswirkungen von Corona auf die Bäckereibetriebe. Am Montag besuchte er die Türkisch-Islamische Gemeinde in Lemgo und dankte "den fleißigen Näherinnen" jener Mund-Nase-Bedeckungen, die auf dem Lemgoer Wochenmarkt verteilt worden waren.

Das waren einige der Höhepunkte der Woche im Wahlkampf des CDU-Landratskandidaten Gnisa im Kreis Lippe, Nordrhein-Westfalen. Gnisa, 57, sagt am Telefon, ihm gefalle sein neues Leben als Kommunalpolitiker bislang sehr gut. "Alles, worüber man spricht, hat man unmittelbar vor Augen."

In seinem vorangegangenen Leben hat er auch viel gesprochen, da ging es aber oft um Abstrakteres: die Rechtsprechung. Anfang des Jahres ist Gnisa mit großer Geste vom Vorsitz des Deutschen Richterbundes zurückgetreten, jetzt will er auch seinen Job als Richter und Direktor des Amtsgerichts Bielefeld aufgeben, er hat beschlossen, seine hohen Ämter im Justizwesen niederzulegen, um in der Politik von vorne anzufangen. Und zwar ganz bewusst ganz unten. "Dort, wo es wirklich brennt." Er habe Jahrzehnte lang für den Rechtsstaat gekämpft, sagt Gnisa, jetzt sieht er die Demokratie bedroht, sie lasse sich nur von der Basis her erneuern. Da wolle er mit gutem Beispiel vorangehen.

Der deutsche Richterbund ist die größte Vereinigung von Richtern und Staatsanwälten in Europa. Sein Vorsitzender hat ein Spitzenamt in Berlin, findet direkten Zugang zu Ministern und wird, wie Gnisa betont, zum Bundespresseball eingeladen. Das Gefühl, dazuzugehören, ist ihm nicht fremd.

Das alles aufzugeben, für die Aussicht, im Falle eines Wahlsieges im September Landrat im Kreis Lippe zu werden, hat in seinem Bekanntenkreis für ungläubige Fragen gesorgt. Das habe ihn in seinem Entschluss noch bestärkt, sagt Gnisa. Kommunalpolitik sei doch nichts Verwerfliches, sondern ganz im Gegenteil das Fundament der Demokratie.

Politik selber machen, das ist seine Parole

So sieht das auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der im März angesichts einer steigenden Gewaltbereitschaft gegenüber Kommunalpolitikern das ganze Land dazu aufrief, zu verhindern, dass die lokal Engagierten zu "Fußabtretern der Frustrierten werden." In manchen Gegenden der Republik müssen inzwischen Bürgermeisterkandidaten per Annonce und Ratsmitglieder per Flyer gesucht werden. "Das ist eine Erosion, die mir Sorgen macht", sagt Gnisa.

Dabei kann nicht verschwiegen werden, dass er mit der Artikulation seiner Sorgen auch schon viele Bücher verkauft hat. Sein Bestseller "Das Ende der Gerechtigkeit: Ein Richter schlägt Alarm" wurde 2017 von vielen Kritikern als überzogene Polemik eingestuft. Auch diesmal begleitet er seinen Versuch, "aus der Provinz eine Reformwelle anzustoßen und die Demokratie zu retten" mit einem Buch, es erscheint Ende Juni.

Aber das eine entwertet ja nicht automatisch das andere. Im Gespräch mit Gnisa wird deutlich, dass er für seine Sache brennt. Was ihn maßlos ärgert: Dass in diesem Land meistens diejenigen, die etwas wagen, Gegenwind bekommen. Und diejenigen, die rumnörgeln, den Applaus. Der Kritiker, sagt Gnisa, erscheine in dieser Gesellschaft immer klüger als der Macher. "Damit entwickeln wir nur noch Leute, die sich in der Ackerfurche wegducken."

Politik selber machen, das ist seine Parole. Und Gnisa will einen höheren Sinn darin erkennen, dass der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer ein früherer Bürgermeister war. Soll heißen: Schon einmal sei das Land auferstanden aus Kommunen.

Jetzt muss er am 13. September in Lippe nur noch gewählt werden. Das Rennen ist offen, Gnisas Bauchfühl unentschieden. Einen Vorteil sieht er darin, dass sein Gegenkandidat, der amtierende Landrat Axel Lehmann von der SPD, wegen mutmaßlicher Versäumnisse bei der Aufklärung der Kindermissbrauchsfälle von Lüdge in der Kritik steht - und dass er, Gnisa, im Bereich Recht und Ordnung einiges zu bieten habe. Aber ein Risiko bleibt, auch wenn er die Wahl gewinnen sollte. Er würde für die unwägbare Kommunalpolitik eine 30-jährige Justizkarriere aufgeben, deutlich vorm Pensionsalter. Gnisa glaubt, dass es sich lohnen könnte.

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