Süddeutsche Zeitung

Demokratie in Bedrängnis:Haltung, bitte!

Lesezeit: 2 Min.

Deutschland ist gespalten, gereizt, verunsichert, nicht nur wegen der Rechtspopulisten. Die Umbrüche fordern unsere Demokratie heraus - und jeden Einzelnen.

Kommentar von Peter Lindner

Keiner kann sagen, wann genau es angefangen hat. Seit wann genau sich dieses diffuse Gefühl der Verunsicherung in unsere Gesellschaft frisst. Der Brexit, die Wahl Donald Trumps, die sogenannte Flüchtlingskrise und die Erfolge der Rechtspopulisten markieren Einschnitte. Aber auch die Auswüchse des globalen Kapitalismus, die soziale Spaltung und hasserfüllte politische Debatten erzeugen ein Unbehagen. Was ist bloß durcheinandergeraten?

Die Gesellschaft der verstörenden Ungewissheit, wie sie der Soziologe Heinz Bude beschreibt, und der Aufstieg der nationalistischen Populisten fordern unsere Demokratie heraus - und jeden einzelnen Bürger. So mancher fürchtet, in dieser plärrenden, unübersichtlichen, beschleunigten Welt den Halt zu verlieren.

Die einen suchen ihn im Privaten, andere im Religiösen - oder im Nationalismus. Wer allerdings Abwertung und Ausgrenzung als ideologische Klammer nutzt, wer die liberale Demokratie verächtlich macht und Hass zur politischen Strategie erhebt, treibt die Gesellschaft weiter auseinander und verstärkt die Verunsicherung. Doch was gibt wirklich Halt in dieser haltlosen Zeit?

Auf diese Frage lässt sich nicht die eine, allein überzeugende Antwort finden. Aber jede Antwort, jedes Ankämpfen gegen die Verunsicherung braucht eines als Grundvoraussetzung: Haltung. Haltung gibt Halt. Selten war es in den vergangenen Jahrzenten wichtiger, eine klare politische Haltung zu entwickeln, eine Haltung zu zeigen - als Person und als Gesellschaft.

Doch was ist Haltung? "Man muss aufrecht stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden", schrieb der römische Philosophen-Kaiser Marc Aurel in seinen "Selbstbetrachtungen". Damit umreißt der Stoiker treffend, was der Begriff bedeuten kann. Im Duden wird Haltung bezeichnet als eine "Grundeinstellung, die jemandes Denken und Handeln prägt". Sie ist jedoch mehr als eine Meinung, die man zu verschiedenen Themen oder Entscheidungen haben kann.

Eine Haltung liegt tiefer. Sie grundiert die Persönlichkeit und ihre Sicht auf die Welt, sie spiegelt elementare Überzeugungen und verleiht Stabilität. Haltung zeigt sich vor allem dann, wenn sie sich bewähren muss, wenn sie auf Widerstand stößt. Das ist kräftezehrend, aber auch das heißt Haltung: durchhalten.

Demokratie ist Haltung

In einer liberalen Demokratie kann Haltung außerdem bedeuten: Contenance, Beherrschtheit, Besonnenheit. Wut nicht mit Wut beantworten, Hass nicht mit Hass. Bewahrt Haltung! kann manchmal aber auch einfach nur Ausdruck einer reflektierten Gelassenheit sein: Entpört euch!

Am Anfang jeder Haltung steht das Innehalten, das Nachdenken, das Sich-selbst-Hinterfragen. Genauso wichtig ist aber der Austausch mit anderen, in der Gesellschaft. Haltung ist, wie die Demokratie selbst, etwas zutiefst Diskursives. Sie wächst am Streit. Am konstruktiven Streit.

Demokratie braucht nicht nur Haltung. Demokratie ist eine Haltung. Diese muss sich gerade jetzt bewähren, wenn Unordnung, Unsicherheit und überschäumende Gereiztheit die Gesellschaft unter Stress setzen.

Konkret zeigt sich diese Haltung im Einstehen für demokratische Werte, für Freiheit, für Gerechtigkeit, im respektvollen Umgang miteinander, im zivilisierten Austausch von Standpunkten und im Ertragen von Unterschiedlichkeit. Haltung zeigen heißt für Demokraten auch: zuhören, den Austausch suchen und Stellung beziehen. Sich einmischen, wenn bei Gesprächen am Küchentisch, beim Familienfest oder in der Kantine rassistische oder antisemitische Ressentiments geäußert werden. Einhaken, wenn Populisten mit Kampfbegriffen wie "Asyltourismus" Stimmung machen. Differenzieren, wenn wieder einmal alles durcheinandergeworfen wird. Agitation mit Argumenten kontern und Fakten auftischen, wenn allzu einfache Welterklärungen und scheinbare Wahrheiten verkündet werden.

Jeder Einzelne ist wichtig für den öffentlichen Diskurs. Jeder Einzelne kann zum Lobbyisten für die Demokratie werden. Und jeder Einzelne kann seinen Beitrag dazu leisten, die grassierende Verunsicherung zurückzudrängen und unsere Gesellschaft zu verbessern. Haltung heißt im besten Fall auch Gestaltung.

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