Süddeutsche Zeitung

Demokratie:Es ist höchste Zeit, die gesellschaftliche Kluft zu überwinden

Lesezeit: 3 min

Wenn die Gesellschaft nicht zerfallen soll, müssen die Eliten ihre Wohlfühl-Blasen verlassen und sich den Bürgern stellen. Das gilt nicht nur für Politiker, sondern auch für Manager, Richter, Wissenschaftler, Ärzte oder Journalisten.

Kommentar von Klaus Ott

Die nächste Kanzlerin, oder der nächste Kanzler, sollte unbedingt einen neuen, wichtigen Passus im Dienstvertrag haben: "Der Kanzler/die Kanzlerin trifft sich einmal die Woche mit Bürgern und Bürgerinnen, um mit ihnen über deren Lage und über die Lage der Nation zu reden." Das sollte dann aber ein echter Dialog sein, keine Show fürs Fernsehen oder für Kanzler-Videos auf Youtube.

Rausgehen und miteinander reden, das wird immer wichtiger in einer Zeit, in der die Welt immer komplizierter wird. Einer Zeit, in der Krisen und Kriege, Auswüchse des Kapitalismus, Ängste vor vermeintlicher Überfremdung und Sorgen um das eigene Schicksal dazu führen, dass viele Leute anfällig werden für den Ruf nach vermeintlich einfachen Lösungen. Hinzu kommen Hass und Hetze im Internet, möglich, weil Menschen sich dort über andere Menschen austoben können, ohne ihnen dabei ins Gesicht sehen zu müssen.

Miteinander reden, von Angesicht zu Angesicht, das ist zumindest ein Ansatz, um zu verhindern, dass die Gesellschaft sich weiter spaltet. Dass diejenigen noch mehr Zulauf bekommen, die Ängste schüren und eine Rettung des Abendlandes durch Ausgrenzung versprechen. Dass Polizisten und Sanitäter bei Einsätzen verbal oder gar körperlich attackiert werden, wenn sie nicht Platz machen für Gaffer, die sich am Leid anderer ergötzen. Dass Politiker über das Netz Morddrohungen erhalten und Bürgermeister aufgeben, weil sie nicht länger wie Freiwild behandelt werden wollen.

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat ergeben, dass der Respekt vor Politikern und Lehrern, Polizisten und Geistlichen zum Teil dramatisch zurückgegangen ist. Aber bei aller Abscheu über Attacken unterhalb der Gürtellinie - daran sind Teile der sogenannten Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auch selbst mit schuld. Weil sie in ihren Wohlfühlblasen leben, statt zu denen zu gehen, die sich ausgegrenzt fühlen. Oder die nicht mehr mitkommen im Turbodigitalismus. Oder die es satthaben, als Pfleger anderen beim Toilettengang zu helfen und dafür weder ausreichend entlohnt noch gewürdigt zu werden.

Es ist höchste Zeit, die gesellschaftliche Kluft zu überwinden, die sich da auftut. Indem Politiker und Richter, Pfarrer und Professoren und Journalisten rausgehen und erklären, was sie machen. Und Fragen beantworten. Und vor allem zuhören. Nichts ist einfacher, als Gespräche zu organisieren, bei Feuerwehren und Fußballklubs, in Schützenvereinen und anderswo. Die Eliten müssen das nur wollen und tun. Und bevor es jetzt heißt, typisch Journalisten, wohlfeile Ratschläge geben: Immer mehr Journalisten gehen in immer mehr Schulen und Unis und anderswohin, um zu erzählen, wie Zeitungen oder das Heute-Journal arbeiten. Vom Lokalredakteur bis zu Marietta Slomka.

Das kann aber nur ein Anfang sein. Wo sind die Richter, die nicht nur Urteile im Namen des Volkes fällen, sondern dem Volk auch erläutern, wie das geschieht? Die auf diese Weise den Rechtsstaat stärken. Wo sind die Professoren, die Einblick geben in ihre Wissenschaft und wozu diese gut ist? Und warum müssen erst Tausende Bauern mit Traktoren demonstrieren, bevor ihr Berufsstand zum Agrargipfel bei Bundeskanzlerin Angela Merkel geladen wird? Wer sich nur ein bisschen umhört auf dem Lande draußen, der weiß seit Monaten, dass es dort brodelt. Dass immer mehr Bauern sauer sind, weil sie sich als Buhmänner der Nation sehen, denen immer mehr (Umwelt-) Auflagen aufgebürdet werden.

Rausgehen und mit den Leuten zu sprechen heißt nicht, ihnen nach dem Munde zu reden. Auch Bauern müssen sich umstellen. Genauso wie wir alle angesichts der drohenden Klimakatastrophe. Aber das lässt sich in einer demokratischen Gesellschaft nicht von oben herab verordnen. Die Bürger ernst nehmen und mitnehmen, das ist entscheidend in einem offenen, freien Land, das ein solches bleiben soll. Die Kanzlerin ist da kein Vorbild. Merkel scheint bisweilen lieber Geburtstage von Bossen zu feiern, wie mit dem damaligen Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann, als draußen ernsthaft mit Bürgern zu reden. Händeschütteln auf dem Marktplatz ist nur Show, kein Dialog.

Mit dieser Haltung steht die Kanzlerin nicht allein da. Wer als Wissenschaftler Unis öffnet, sammelt für seine Professorenkarriere weniger Pluspunkte als jemand, der viel forscht, hochgeistig publiziert und unter seinesgleichen bleibt. Der seine Wohlfühlblase nicht verlässt und sich insofern von denen, die in Vorurteilsblasen leben, im Prinzip kaum unterscheidet. Hauptsache, man vermeidet jeden Kontakt mit anderen und mit Andersdenkenden.

Das ist borniert und rückständig. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Medizin und Medien brauchen einen Sinneswandel, eine innere Reform. Das Rausgehen und Reden muss wichtiger werden als das Knüpfen von Seilschaften, um sich gegenseitig hochzuziehen und so Karriere zu machen. Gemeinschaftssinn statt Egoismus, das ist überlebenswichtig für Demokratien. Sonst ist es irgendwann zu spät, sonst stehen die Grundrechte irgendwann nur noch auf dem Papier, weil sie nicht mehr gelebt werden. Weil sich sonst immer mehr Menschen heimatlos fühlen im eigenen Land und falschen Heilsbringern hinterherlaufen.

Das Miteinanderreden gilt freilich nicht für diejenigen, mit denen sich nicht mehr reden lässt. Die abgerutscht sind, vor allem nach rechts außen. Die Gift in die Seelen der Menschen träufeln. Die nicht diskutieren, sondern diktieren wollen. Die in einer wehrhaften Demokratie bekämpft werden müssen. Und mit dem Miteinanderreden alleine ist es auch nicht getan. Das kann nur der Anfang sein, um gemeinsam die kleinen und vor allem großen Probleme zu lösen; um eine gerechtere Welt zu schaffen, die nicht aus den Fugen gerät. Die Basis dafür aber sind viele, viele ernsthafte und offene Dialoge.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2019
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