Süddeutsche Zeitung

Demokratie:Der Wunsch nach Teilhabe

Viele Bürger misstrauen der Politik und fordern mehr Einfluss. Bundesweite Referenden wären aber kaum vereinbar mit der parlamentarischen Konkurrenz-Demokratie, wie wir sie kennen.

Kommentar von Thomas Kirchner

In vielen Ländern wächst das Unbehagen über das Verhältnis der Bürger zum politischen Gemeinwesen. Alle vier oder fünf Jahre einen Repräsentanten in die eher ferne Hauptstadt zu entsenden, dem man wohl oder übel vertrauen muss, reicht vielen Menschen nicht. Sie wollen mehr.

Das Verlangen nach Teilhabe ist in dem Maße gewachsen, in dem das Ansehen der Politiker (und jenes der Journalisten, des Bindeglieds zu den Bürgern) verfallen ist. Was liegt also näher, als dem Wunsch der Menschen nachzukommen, sie hineinzuziehen in den politischen Prozess und nicht nur wählen, sondern selbst entscheiden zu lassen? Über das neue Mehrzweckgebäude, aber auch über die Rentenreform. Und warum nicht gleich auch über das Handelsabkommen mit Kanada?

Das Schöne an Europa ist, dass es Vergleiche ermöglicht. Mit den Niederlanden zum Beispiel. Dort wird schon seit Jahrzehnten über einen Ausbau der direkten Demokratie diskutiert. Vor allem Linksliberale, Erben der 68er-Bewegung, drängten voran, während Konservative skeptisch blieben. Den Ausschlag gab schließlich, dass auch die Rechtspopulisten die Volksbefragung als wohlfeiles Instrument entdeckten, den "Altparteien" ein Bein zu stellen. Man beschloss, auf nationaler Ebene ein Referendum einzuführen, mit dem sich Parlamentsbeschlüsse "korrigieren" ließen. Die nötige Verfassungsänderung scheiterte im Parlament, doch einigten sich die Parteien auf einen Zwischenschritt: das nicht-bindende, sogenannte beratende Referendum.

EU-feindliche Populisten rieben sich die Hände. Sie lancierten umgehend eine Abstimmung über das erstbeste Thema mit Bezug zu Europa, das ihnen über den Weg lief: das Assoziationsabkommen mit der Ukraine. Es ging allein darum, ein Zeichen gegen die EU zu setzen. Das gelang. Die Beteiligungsquote wurde knapp erreicht, und mehr als 60 Prozent stimmten gegen das Abkommen. Die Regierung konnte sich nur unter größten Bauchschmerzen aus der Affäre winden, indem sie von den EU-Partnern ein paar Zusatzerklärungen zum Vertragstext erbettelte.

Es steht zu erwarten, dass es in Deutschland ähnlich liefe

Nun schafft die neue Koalition das Referendum wieder ab, es ist ihr erstes Projekt. Die Begründung: Die Option habe nicht gehalten, was sie versprochen hatte. Außerdem sei der Rückhalt für das eigentliche Ziel, das bindende Referendum, geschwunden. Es war bezeichnenderweise eine linksliberale Ministerin, die das verkündete. Ihre Partei hat jeglichen partizipativen Enthusiasmus verloren.

Es steht zu erwarten, dass es in Deutschland ähnlich liefe. Beide Länder sind repräsentative parlamentarische Demokratien, mit - idealerweise - einem klaren Gegenüber von Opposition und Regierung, die ein zeitlich begrenztes Mandat erhält, ihre Vorhaben umzusetzen und auch zu verantworten. Mit bundesweiten Referenden ließe sich dieses System leicht aushebeln. Sie gerieten zum taktischen Instrument, mit dem selbst kleine Oppositionsgruppen größte Wirkung erzielen könnten. Per Referendum ließe sich in Deutschland etwa eine Bürgerversicherung, sollte die künftige Regierung sie beschließen, leicht wieder kippen. Sinnvoll wäre das nicht, schon allein weil sich die Verantwortlichkeiten dann kaum noch zuordnen ließen.

An dieser Stelle wird gern auf die Schweizer verwiesen, die so glücklich sind mit ihren Volksrechten. Machen sie nicht vor, wie es geht? Einerseits schon. Sie dürfen über fast alles abstimmen, über den Bau der neuen Turnhalle im Dorf ebenso wie über die Höhe ihrer Steuern, und zwar ständig. Mögliche Fehlentwicklungen lassen sich auf diese Weise rasch korrigieren. Übersehen wird aber oft, dass die ausgeprägte direkte Demokratie ein anderes politisches System erzwungen hat: das Miteinander aller maßgeblichen Parteien in einer permanenten großen Koalition. Diese Konsensdemokratie muss man wollen.

Jedenfalls wären bundesweite Referenden, wie sie etwa die Grünen, die CSU und nicht zuletzt die AfD fordern, kaum kompatibel mit der parlamentarischen Konkurrenz-Demokratie, wie wir sie kennen. Die Niederländer haben aus ihrer schlechten Erfahrung gelernt und machen nun einen Schritt zurück. Umso besser sollten sich andere überlegen, welchen Schritt nach vorn sie gehen wollen.

Etwas anderes sind außenpolitische Grundsatzfragen, die weit über eine Legislaturperiode hinausweisen. Trotz aller Trugschlüsse und Fehlinformationen, die mit dem Brexit-Votum einhergingen: Warum sollte ein Land nicht über die wesentliche Frage seiner außenpolitischen Orientierung abstimmen, wenn deren Fundament im Volk offenkundig brüchig geworden ist? Wenn Europa eine Zukunft haben soll, dann müssen solche Abstimmungen eben gewonnen werden.

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SZ vom 27.12.2017/dit
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