Indien begrüßt seine Besucher bei der Einreise gerne mit dem Hinweis, die "größte Demokratie der Welt" zu sein. Inzwischen aber hat diese Demokratie merklich gelitten, einmal mehr, weil Premier Narendra Modi immer wieder den Hindunationalismus propagiert.
Das einst stabile Land wird deshalb inzwischen als "defekte Demokratie" bezeichnet. Ebenso Brasilien, wo Präsident Jair Bolsonaro gegen Minderheiten hetzt. Die Türkei galt lange als Vorzeigeland dafür, dass auch islamische Staaten Demokratie können - heute ist sie eine Autokratie, und ihr Anführer heißt Recep Tayyip Erdoğan.
Zu diesen Ergebnissen kommt die Bertelsmann-Stiftung in ihrem aktuellen Transformationsindex, der an diesem Mittwoch erscheint. Er ist eine Art Barometer dafür, wie es um die Demokratie in der Welt bestellt ist. Die Autoren warnen: Noch nie seit Beginn der Erhebungen im Jahr 2004 sei die Qualität der Demokratie so niedrig gewesen wie jetzt. Einst solide Demokratien würden schwächer, Autokratien repressiver.
137 Entwicklungs- und Transformationsländer hat die Stiftung von Anfang 2017 bis Anfang 2019 analysiert, eine vergleichbare Studie gibt es sonst nirgends. Der Index erscheint alle zwei Jahre, Daten lieferten rund 280 Experten, die in mehr als 120 Ländern verteilt sind, außer da, wo es zu gefährlich ist wie etwa in Nordkorea oder Turkmenistan. In Gütersloh, wo Bertelsmann sitzt, landen die Berichte auf den Schreibtischen der Mitarbeiter, die drei Hauptthemen: Demokratie, Marktwirtschaft, Regierungsführung.
3,4 Milliarden Menschen werden autokratisch regiert
Der Grad der Demokratie in einem Land wird mit einem aufwendigen Punktesystem ermittelt. Wer acht bis zehn Punkte erhält, gilt als stabile Demokratie, mehr als sechs zeigen eine defekte Demokratie an, alles darunter rutscht in die Kategorie "stark defekt" oder "autokratisch". 63 der untersuchten Länder sind demnach Autokratien, unter ihnen die Türkei, Bangladesch und Mosambik. 74 zählen als Demokratie, Polen etwa, Ungarn und Libanon. Insgesamt 3,4 Milliarden Menschen werden demnach autokratisch regiert, 3,2 Milliarden leben in Demokratien.
"Besorgniserregend", sagt Autor Hauke Hartmann, sei, dass die Gewaltenteilung in insgesamt 60 Staaten "erkennbar" ausgehöhlt werde. In Polen zum Beispiel werden immer mehr unabhängige Richter aus ihren Ämtern entfernt. Zudem würden Demonstrationsrechte deutlich eingeschränkt, sagt Hartmann. Die Meinungs- und Pressefreiheit sank zuletzt gar in der Hälfte aller untersuchten Länder.
Auch wirtschaftlich wird ein negativer Trend sichtbar. Die Autoren vergleichen Berichte der gesamten Dekade: Waren 2010 noch 38 Prozent aller untersuchten Länder finanziell stabil, liegt dieser Anteil nun bei 20 Prozent. Viele Länder sind hoch verschuldet, etwa Argentinien. Das sei besonders in der aktuellen Pandemie ein Problem, sagt Hartmann: "Viele wissen nicht, wie sie Schulden zurückzahlen sollen. Wie sollen diese Länder jetzt massiv in das Gesundheitssystem investieren?"
In einzelnen Bereichen gibt es positive Entwicklungen. Bulgarien, Malaysia und Südafrika etwa machen Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung. Nach dem Arabischen Frühling wurden umfassende Reformen in Tunesien durchgesetzt; es gibt freie Wahlen und eine aktive Zivilgesellschaft. So hat es das Land aus der Autokratie in eine Demokratie geschafft.
Doch auch in der Qualität von Regierungen zeigt sich eine negative Entwicklung. Die Studie untersucht, ob Politiker gesellschaftlichen Konsens für Reformen herstellen. Es zeigt sich: Immer mehr demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Sie greifen repressiv durch, stets mit der Begründung, im Sinne des Wählers zu handeln. In der Türkei wurde Recep Tayyip Erdoğan mit Einführung des Präsidialsystems zum "Super-Präsidenten". In Ungarn zeigt sich jetzt, wie in der Vergangenheit geebnete autokratische Tendenzen genutzt werden.
Premier Orbán regiert per Dekret, seit das Parlament Ende März dafür gestimmt und sich so selbst entmachtet hat. Die Gewaltenteilung sei formell ausgehebelt, schreibt Hartmann in einer zusätzlichen Analyse. Noch wird Ungarn im Index als Demokratie gelistet, droht aber weiter abzurutschen.
Die Corona-Pandemie indes birgt Gefahren und Chancen. Es zeige sich mehr innergesellschaftliche Solidarisierung, sagt Hartmann. Mehr Regierungschefs könnten die Krise allerdings nutzen, um Macht für sich zu bündeln. Gleichzeitig zähle jetzt Glaubwürdigkeit: Jair Bolsonaro in Brasilien hatte Covid-19 erst kleingeredet. Bei der Bevölkerung löste das Unmut aus.