Nach 90 Minuten kommt die entscheidende Frage. "Werden Sie 2020 wieder kandidieren?", will der Moderator wissen. Bernie Sanders reagiert, wie er oft reagiert: mürrisch. "Das letzte, was die Amerikaner nach diesem quälend langen Wahlkampf interessiert, ist die Frage, wer 2020 antreten wird", sagt der Senator. Aber das frenetische Klatschen, Kreischen und die "Bernie Bernie"-Rufe zeigen, dass viele junge Amerikaner sich momentan genau diese Zusage wünschen würden.
Der Konzertsaal der George Washington University war nach wenigen Stunden ausverkauft, als bekannt wurde, dass Sanders dort sein Buch "Our Revolution" vorstellen würde - eine Woche nach dem Tag, an dem Hillary Clinton zur US-Präsidentin gewählt werden sollte. Alles kam anders und so bekommt Sanders' Auftritt eine andere Dringlichkeit. Mit "Our Revolution" (das Buch erscheint 2017 auf Deutsch bei Ullstein) und der Tour durch 16 US-Städte wollte er Clinton und ihrem Team eigentlich klar machen, das progressive Programm des Parteitags umzusetzen und nicht wieder in die politische Mitte zu rücken.
Mike Pence bei Hamilton:Trumps Vize Mike Pence im Musical belehrt und ausgebuht
Der künftige US-Vizepräsident sieht sich am Broadway den Riesenerfolg "Hamilton" an. Die Schauspieler nutzen das für einen Appell an den Hardliner. Trump fordert von ihnen eine Entschuldigung.
Doch nun geht es für Sanders und die Demokraten darum, eine Haltung zum nächsten Präsidenten zu entwickeln. "Mister Trump hat viele verrückte Dinge gesagt. Aber zum Ende des Wahlkampfs hat er einen Ausdruck benutzt, den wir Demokraten lieben. Er hat gesagt, er werde der 'Champion der amerikanischen Arbeiterklasse' sein", ruft der 75-Jährige. Eines müsse Trump wissen: Es gibt eine Liste mit all seinen Versprechungen und auf deren Einhaltung wird Sanders pochen.
Die Aussage ist bemerkenswert. Zum Einen wird deutlich, wie entsetzt Sanders ist, dass die Demokraten den Bezug zu den Arbeitern so sehr verloren haben, dass ein Milliardär hier besser ankommt. Er schäme sich deswegen, sagt er in Interviews.
Zugleich ist Sanders bereit, mit Trump zusammenzuarbeiten, wenn dieser den 43 Millionen Armen in den USA oder der Mittelschicht hilft. Wenn Trump also hunderte Milliarden in den Bau von Brücken, Straßen und Flughäfen steckt oder durchsetzt, dass Frauen sechs Wochen bezahlten Mutterschutz kriegen ("das ist nicht genug, aber ein Anfang"), dann wird er ebenso wie die linke Senatorin Elizabeth Warren Trump unterstützen.
Bernie-Fans: Demokraten und Republikaner sind sich zu ähnlich
Die Bewunderung der 1500 Zuhörer für ihren "Bernie" ist weiter enorm. Die Augen vieler Millennials leuchten, wenn sie über den Vorwahlkampf sprechen: Sanders stehe für progressiven Wandel. Doch wie die 20-jährige Elizabeth Hasier, die für Clinton stimmte, können viele verstehen, wieso Trump so gut ankam: "Ich habe Bernie unterstützt, weil er für Veränderung steht. Die Trump-Wähler waren begeisterter, weil er ihnen das Gefühl gab, etwas zu verändern. Bei Hillary lautete die Botschaft nur: 'Alles bleibt so wie bisher.'"
Das Phänomen der "Filter Bubble" wird auch im Publikum diskutiert - und die meisten scheinen nur wenig Kontakt zu Trump-Wählern zu haben. Allerdings denken viele wie Johs Pierce: "Das große Problem in Washington ist gar nicht, dass Republikaner und Demokraten zu viel streiten. Mich stört eher, dass sie sich in vielen Themen zu einig sind: etwa darin, endlos Kriege zu führen oder die Wall Street kaum zu kontrollieren." Für den Enddreißiger ist klar: Die Demokraten müssen progressiver werden.
Dieses Argument vertritt auch Sanders an diesem Abend. Er habe voller Überzeugung wochenlang für Hillary Clinton geworben, weil er sie für eine gute Politikerin und extrem intelligente Frau halte. Er weist den Vorwurf zurück, sein Ausharren im Vorwahlkampf habe ihr geschadet: "Dank mir ist sie eine bessere Kandidatin geworden. Ich bin stolz, sie nach links gedrängt und in Sachen Freihandel und Keystone-Pipeline überzeugt zu haben." Auch deshalb fordert der Mann, der stets als Unabhängiger antritt, dass die Demokraten Farbe bekennen.
"In der Debatte, die die Partei gerade führt, geht es um etwas Grundsätzliches: Auf welcher Seite steht ihr? Kann man wirklich Millionen von Wall-Street-Banken und mächtigen Lobbyisten annehmen und die Amerikaner überzeugen, für die Anliegen der Arbeiter und der Mittelschicht zu kämpfen?", ruft Sanders. Für ihn ist klar: Die Demokraten sollen auf die Spenden aus Industrie und dem Silicon Valley verzichten - und "den Kampf gegen die Oligarchen, die Banken, die Versicherungskonzerne und corporate media" annehmen. Dies sei der fundamentale Unterschied zwischen ihm und den Clintons, betont Sanders.
Sanders ist die wichtigste linke Stimme in diesem Richtungskampf der Oppositionspartei: Er hat im Vorwahlkampf bewiesen, dass man ohne Big Money sehr erfolgreich sein. Wenn 2,5, Millionen Bürger überzeugt vom Programm sind, genügt eine durchschnittliche Spende in Höhe von 27 Dollar, um mit jedem Gegner mithalten zu können. Er spricht oft von einer "politischen Revolution", und meint damit auch, dass sich Wandel nicht von oben verordnen lässt: Unten an der Basis müsse der nötige Druck erzeugt werden.
Das Gespräch mit Autor E.J. Dionne auf der Bühne der George Washington University macht deutlich, wieso Sanders selbst von Trump-Anhängern als authentisch wahrgenommen wird. Er erzählt (dies ist der erste Teil des 464 Seiten langen Buchs), wie er nach dem Zweiten Weltkrieg in einfachsten Verhältnissen in Brooklyn aufwuchs und als Mittelstreckenläufer jenen Kampfgeist fand, der ihn bis heute prägt. Als Student in Chicago sei er der "Young People Socialist League" beigetreten und habe alles gelesen, was er in die Finger kriegte.
Niemand finde Armut gut, aber zu wenige fragten: "Warum gibt es überhaupt Armut? Welche Rolle spielen Macht und Geld und der Kapitalismus?" Seit Jahrzehnten, erst als Bürgermeister in Burlington und später im US-Kongress, versucht er, mehr soziale Gerechtigkeit durchzusetzen und den Einfluss von Großkonzernen zu begrenzen (mehr über Sanders' Überzeugungen hier) - diese Beständigkeit fasziniert seine Fans. Sie jubeln auch, wenn er selbstironisch damit angibt, vom Washingtonian-Magazin zum "schlechtest gekleideten Senator" gekürt worden zu sein: "Wenn die wüssten, wie ich früher herumlief..."
Die nächsten Tage werden zeigen, wie sich die Demokraten ausrichten. Im Repräsentantenhaus fordert mit Tim Ryan aus Ohio ein Vertreter des Rostgürtels die langjährige Fraktionschefin Nancy Pelosi heraus. Die Kalifornierin hat mehr Spenden eingeworben als jede andere - aber die Demokraten in eine ultraliberale Partei verwandelt, die sich an Großstädten und dem Leben an Ost- und Westküste ausrichtet.
Sanders selbst gehört nun zum demokratischen Leadership-Team im Senat und soll den Kontakt zu jungen Leuten und Aktivisten verbessern und diese an die Partei binden. Wie gut er mit dem neuen Top-Demokraten kooperieren wird, ist offen: Der New Yorker Chuck Schumer gehört zum Clinton-Lager und ist alles andere als ein Wall-Street-Kritiker.
An der George Washington University hat Sanders noch eine andere Botschaft an den künftigen US-Präsidenten, der im Trump Tower gerade vor allem alte, weiße, wütende Männer für sein Kabinett auswählt. Wenn der Republikaner weiterhin den Klimawandel leugne sowie mit "Rassismus und Sexismus" Zwietracht säe, dann werde er mit seiner neuen Organisation "Our Revolution" zu Protesten aufrufen. Öffentlich fordert er von Trump, den "Rassisten" Steve Bannon nicht zum Chef-Berater zu machen.
Dies macht Sanders dem Publikum immer wieder klar: Wenn ihr auf den Straßen unterwegs seid, dann wird es für Trump sehr schwer, seine Pläne (etwa die Grenzmauer zu Mexiko oder Steuersenkungen für Reiche) durchzusetzen. Ob die vielen Anti-Trump-Demonstrationen in Dutzenden Großstädten wirklich noch wochenlang weitergehen werden, ist offen.
In Washington scheinen viele Studenten wie Stefanie Peart sehr motiviert, für ein weltoffenes Amerika - und die Agenda von Bernie Sanders - zu kämpfen. Sie habe erst am Vortag an einem Protestzug vom Uni-Campus zum Weißen Haus teilgenommen, erzählt die Afroamerikanerin: "Wir haben für die Rechte von Einwandern und Homosexuellen demonstriert und 'Black Lives Matter' gerufen."
Stefanie sagt, dass ihr Engagement nicht nachlassen wird. "Wenn wir uns jetzt geschlagen geben, dann hat Trump doch gewonnen. Der erste Tag war schrecklich, es hat geregnet und die Welt schien genauso geschockt zu sein wie wir. Wir haben getrauert, doch nun ist es an der Zeit, uns Gehör zu verschaffen." Und mit dem Optimismus einer 18-Jährigen sagt sie: "Amerika ist ein großartiges Land und das wird auch Trump begreifen, wenn er uns zuhört."
Wie Tausende Amerikaner hat Elizabeth Hasier nach dem Trump-Sieg Geld gespendet: An die Organisation Planned Parenthood, die Frauen unter anderem Abtreibungen ermöglicht und die Pille bezahlt. Hier wird sie sich auch als Freiwillige engagieren. "Es macht mir Angst, dass der neue Präsident das "Roe v. Wade"-Urteil ablehnt, das Abtreibungen erlaubt. Und ich mache mir Sorgen um meine Freunde, die Latinos oder Muslime sind. Aber schau dich doch um: All diese Leute werden nicht zulassen, dass es soweit kommt."
Linktipps: In diesem Beitrag für die New York Times beschreibt Sanders, wieso er "traurig, aber nicht überrascht" über Trumps Sieg ist und wie sich die Demokraten verändern müssen. Für Vanity Fair hat der globalisierungskritische Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz aufgeschrieben, wie die Demokraten das Erbe der Clintons abschütteln könnten.