Süddeutsche Zeitung

Demokrat Biden in Kenosha:Mitgefühl zeigen, Wähler gewinnen

Joe Biden besucht in Kenosha die Familie von Jacob Blake und hört in einer Kirche verstörten Bürgern zu. Er setzt sich damit von Trump ab - doch auch der Demokrat verfolgt in Wisconsin eine Agenda.

Von Hubert Wetzel, Washington

Es gibt verschiedene Gründe, warum Joe Biden am Donnerstagnachmittag mit einer Maske vor dem Mund in einer Kirche in Kenosha, Wisconsin saß. Der demokratische Präsidentschaftskandidat war zu einem "Community Meeting" in die Grace Lutheran Church gekommen, zu einer Bürgerversammlung. Das war einerseits eine etwas hochtrabende Bezeichnung für die Veranstaltung, denn versammelt hatten sich im Kirchenraum allenfalls ein, zwei Dutzend Menschen, mehr war aus Seuchenschutzgründen nicht erlaubt.

Aber es war auch eine treffende Bezeichnung, denn es waren Bürger von Kenosha, die Biden dort traf. Einen Feuerwehrmann, der in den vergangen Tagen brennende Geschäfte gelöscht hat; eine Frau, deren Landen beinahe geplündert und in Brand gesteckt wurde; eine Anwältin, die täglich erlebt, wie ungleich Schwarze und Weiße von der Polizei und der Justiz in den USA behandelt werden; und eine schwarze Mutter, die Angst hat, dass ihre Kinder eines Tages nicht mehr nach Hause kommen, weil sie einem schießwütigen Polizisten begegnet sind. Nacheinander traten sie ans Mikrofon, und obwohl sie durch einen Mundschutz sprechen mussten, war ihnen allen noch das Entsetzen über die Gewalt anzuhören, die ihre Stadt in den vergangenen Tagen erschüttert hat. Manchmal verhaspelten sie sich und sprachen Biden als "Mr. President" an, so als hätte der die Wahl schon gewonnen.

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Das hat Biden natürlich noch nicht. Und wenn man es zynisch sehen will, dann war genau dieser Umstand der erste Grund, warum der Kandidat Kenosha besucht hat. Wisconsin ist bei dieser Wahl einer der wichtigsten und am härtesten umkämpften Bundesstaaten. 2016 siegte dort ebenso überraschend wie knapp Donald Trump. Um Präsident zu werden, muss dieses Jahr Biden in Wisconsin gewinnen. Dazu braucht er die Stimmen der Schwarzen, die vor vier Jahren die demokratische Kandidatin Hillary Clinton im Stich gelassen hatten. Fast ein Viertel der Afroamerikaner in Wisconsin, die 2012 noch zur Wahl gegangen und für Barack Obama gestimmt hatten, blieben 2016 zu Hause. Das reichte, um den Staat an Trump fallen zu lassen.

Biden verspricht, die Gleichberechtigung voranzubringen

Biden will das vermeiden. In der Kirche in Kenosha erzählte er deswegen besonders ausführlich davon, wie er sich als junger Mann daheim in Delaware für die Bürgerrechte schwarzer Amerikaner eingesetzt habe, wie sehr er Martin Luther King und Bobby Kennedy bewunderte - "die beiden einzigen politischen Helden, die ich je hatte" -, und dass es jetzt endlich Zeit sei, Amerikas rassistisches Erbe wegzuräumen. "Ich glaube fest daran, dass wir an einem Punkt in unserer Geschichte sind, an dem wir die Ursünde unseres Landes, die Sklaverei, überwinden können", sagte er. Und er versprach, dass er als Präsident alles dafür tun werde, die Gleichberechtigung schwarzer und weißer Amerikaner voranzubringen.

Der zweite Grund, der Biden nach Kenosha brachte, war wohl der Wunsch, einen möglichst großen und möglichst deutlichen Kontrast zu dem Mann zu zeigen, gegen den er Wahlkampf macht: Donald Trump. Der Präsident hatte die Stadt am Dienstag besucht. Er war durch die Trümmer niedergebrannter Geschäfte gestiefelt, hatte sich mit Polizisten getroffen und dann auf die "einheimischen Terroristen" geschimpft, die seiner Ansicht nach allein für alles Unheil verantwortlich sind, das die Stadt getroffen hat. Kein Wort des Bedauerns von Trump für Jacob Blake, den Schwarzen, der vor eineinhalb Wochen in Kenosha von einem weißen Polizisten in den Rücken geschossen wurde und wohl gelähmt bleiben wird; kein Wort der Kritik über den jungen rechten Milizionär, der einige Tage später zwei Männer erschoss, die gegen die Polizeigewalt protestiert hatten, und dem der Präsident höchstpersönlich bereits attestiert hat, in Notwehr gehandelt zu haben. Stattdessen erzählte Trump in Kenosha wieder einmal, dass ganz Amerika in Gewalt und Chaos versinken werde, wenn Biden die Wahl gewinnen sollte.

Biden weiß, dass es viele Menschen gibt, die Trump zwar nicht mögen, denen aber angesichts der Plünderungen und Brandstiftungen, in die die "Black Lives Matter"-Proteste immer wieder ausarten, trotzdem langsam Angst und Bange wird. Und Biden weiß, wie gefährlich es für ihn wäre, wenn Trumps Behauptung bei diesen Wählern verfangen würde, er habe Verständnis oder hege gar heimlich Sympathie für die Gewaltausbrüche. Von den Gewalttätern unter den Demonstranten distanzierte Biden sich daher ausdrücklich. "Proteste sind Proteste", sagte er in der Kirche. "Aber für Pründerungen und Brandstiftung gibt es keinerlei Rechtfertigung. Das können wir nicht tolerieren."

Die Wähler sollen nicht vergessen, wer die Gewalt schürt

Doch Biden kennt eben auch die Umfragen, wonach eine Mehrheit der Amerikaner immer noch Trump die Schuld daran gibt, dass das Land in diesem Sommer von so viel Chaos und Gewalt heimgesucht wird wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und Bidens Besuch in Kenosha sollte dazu beitragen, dass die Wähler das nicht vergessen. Es sei Trump, der den Hass in der Gesellschaft anfache und die Gräben vertiefe, warf Biden dem Präsidenten vor. Das sei falsch und zutiefst "unmoralisch" Trump "ruft zwar dauernd nach Recht und Ordnung, aber das amerikanische Volk kauft ihm das nicht ab", sagte Biden. "Nein, das tut es nicht", antwortete ihm eine Frau, die in der ersten Kirchenbank saß, sehr bestimmt.

Und dann gab es wohl noch ein drittes Motiv für Biden, diese schwer verletzte Stadt zu besuchen: Mitleid. Biden hat in seinem Leben harte Schläge einstecken müssen. Seine erste Frau und seine Tocher wurden bei einem Autounfall getötet, einer seiner Söhne starb an einem Hirntumor. Joe Biden weiß, was Schmerz und Trauer sind. Er ist ein Mensch, der dazu fähig ist, Mitgefühl zu empfinden und zu zeigen - auch das ein Charakteristikum, das ihn von Donald Trump unterscheidet.

Am Donnerstag traf Biden sich deshalb vor seinem Besuch in der Kirche auch mit der Familie von Jacob Blake. Das Treffen war privat, Biden machte kein Spektakel daraus, die Presse war ausgeschlossen. Er habe mit den Angehörigen von Blake geredet und auch mit dem Verwundeten selbst telefoniert, erzählte Biden später. Er sei beeindruckt gewesen von dem Optimismus und der Kraft, die er dort gespürt habe. Jacob habe ihm gesagt, dass er kämpfen und nichts ihn unterkriegen werde. "Jacobs Mutter hat dann gebetet", sagte Biden, "für ihren Sohn und für den Polizisten."

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