Demographische Horroszenarien:Warum wir positiv in die Zukunft blicken können

Die Deutschen sterben aus, die Rente ist nicht sicher: Mit solch düsteren Ausblicken machen Politik und Wirtschaft den Menschen Angst - und rechtfertigen soziale Einschnitte in der Gegenwart. Wir sollten kritischer mit den Zukunftsprognosen umgehen, die uns da vorgelegt werden. Das zeigt auch ein Blick in die Vergangenheit.

Gerd Bosbach

Das Wort Demographie ist populär, vor allem, wenn es um Einschnitte ins soziale Netz geht. Dann wird es von Politikern, Wissenschaftlern und Unternehmern benutzt, um zu belegen, dass es keine Alternative zu dieser oder jener Kürzung gibt. Demographie gilt als Zukunftsthema. Dabei ist die Angst vor der demographischen Entwicklung viel älter, als man ahnt.

Sozialstaat ist in der Sackgasse - wer zahlt morgen die Renten?", fragte zum Beispiel 1959 die österreichische Neue Tageszeitung. Konrad Adenauer prophezeite 1953 angesichts der damaligen Bevölkerungsentwicklung: "Dann sterben wir ja aus." Doch selbst Adenauer war nicht der Erfinder der Demographie-Angst. Schon 1932 schrieb der bekannteste Bevölkerungsforscher der Weimarer Republik unter dem Titel "Volk ohne Jugend - Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers" über seine demographischen Berechnungen und Befürchtungen. Heute reibt man sich angesichts solcher Szenarien die Augen. Waren das nicht damals völlig unberechtigte Ängste? Wieso diese Angst vor Aussterben und Überalterung?

Die Beobachtungen zur alternden Gesellschaft waren in der Tat auch schon damals korrekt. Im vergangenen Jahrhundert stieg die Lebenserwartung um mehr als 30 Jahre. Der Jugendanteil reduzierte sich von 44 auf 21 Prozent. War 1900 noch fast jeder Zweite unter 20 Jahre alt, war es 2000 nur noch jeder Fünfte; der Anteil der über 65-Jährigen verdreifachte sich in der gleichen Zeit. Die Zahlen klingen katastrophal - doch die Katastrophe ist ausgeblieben. Offenbar war die demographische Entwicklung nicht der bestimmende Faktor des letzten Jahrhunderts. Wichtiger waren die enorme Entwicklung der Produktivität, die zunehmende Gesundheit der Älteren, die Wanderungen in einer mobilen Welt, die Zunahme der Bildung.

Doch dieser Blick in die Vergangenheit der Demographie ist nicht erwünscht. Denn wer ihn kennt, glaubt nicht mehr so leicht, dass soziale Einschnitte wie die Rente mit 67 oder Abstriche bei der Rentenhöhe, die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge oder auch der angebliche Fachkräftemangel wirklich überwiegend demographische Gründe haben. Und auf der Suche nach anderen wichtigen Ursachen wird man leicht fündig.

Erstes Beispiel: Der angebliche Fachkräftemangel. Es heißt, dass es heute und auch künftig zu wenige Jugendliche gebe. Doch die heutigen Fachkräfte sind die Ausgebildeten der vergangenen Jahrzehnte. Und dort haben Verantwortliche Fehler begangen. Zwischen 1990 und 2005 wurde Hunderttausenden Jugendlichen die Ausbildung verweigert. Die Bertelsmann-Stiftung ermittelte im Jahr 2010 ungefähr 1,5 Millionen Betroffene zwischen 25 und 34 Jahren. Dieses Versäumnis wirkt also bis 2050 negativ auf dem Arbeitsmarkt. Sogar noch 2009 wurden Ausbildungsplätze reduziert und fertig Ausgebildete entlassen - wegen der Finanzkrise.

Auch in den Hochschulen wird viel vorhandenes Potential verschenkt. Zulassungsbeschränkungen halten vom Studium ab, überfüllte Hochschulen schwächen Qualität, Kreativität und individuelle Entwicklung. Wer aber heute Bewerbern das Masterstudium verwehrt, der sollte in zehn Jahren keine Krokodilstränen über fehlende studierte Fachkräfte vergießen. Unternehmer und Politiker verschenkten und verschenken das Potential der vorhandenen Jugend. Und zur Verschleierung führen sie den Sündenbock Demographie vor.

Zweites Beispiel: Die Mär von den unbezahlbaren Renten. Die Antwort auf die bange Frage von 1959, wer wohl morgen die Renten bezahlen werde, fällt aus heutiger Sicht leicht: Die Produktivitätssteigerungen in der Wirtschaft erlaubten es, die Rentner materiell gut auszustatten, bei sinkenden Arbeitszeiten der Arbeitnehmer und einer ungeahnten Wohlstandssteigerung für fast alle. Mit diesem Wissen von der Vergangenheit können wir versuchen, uns der Zukunft rechnerisch zu nähern. Und das ganz ohne die vielen Unsicherheiten der offiziellen Bevölkerungsvorausberechnungen.

Die Prognostiker kennen die Zukunft auch nicht

Selbst wenn die Produktivitätssteigerung je Arbeitnehmer jährlich nur ein Prozent beträgt, könnte jeder Beschäftigte im Jahre 2060 dreißig Prozent Rentenbeitrag zahlen und gleichzeitig noch sein verbleibendes Einkommen um über vierzig Prozent steigern, nach Abzug der Preissteigerung. Vorausgesetzt ist allerdings, dass die erhöhte Produktivität auch ausgezahlt wird, die Verteilung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber sich nicht zugunsten der Arbeitgeber ändert. Auch bei der Finanzierung der Renten ist das Hauptproblem also nicht die demographische Entwicklung. Die Umverteilung zugunsten der Unternehmer wirkt viel stärker.

Der Blick in die Vergangenheit macht das plausibel. Seit der Wiedervereinigung ist die wirtschaftliche Leistung Deutschlands nach Angaben des Statistischen Bundesamts um knapp 30 Prozent gestiegen. Nötig waren dazu vier Prozent weniger Arbeitsstunden. Und das alles innerhalb von 20 Jahren, bei vergleichsweise mäßiger Produktivitätsentwicklung, trotz Arbeitslosigkeit, trotz der Finanzkrise mit ihren fünf Prozent Minus beim Bruttosozialprodukt im Jahr 2009. Wenn diese 30 Prozent nicht im Portemonnaie angekommen sind, hat das offensichtlich nichts mit Demographie zu tun, sondern mit der Umverteilung zu Lasten der Arbeitnehmer.

Bürger, Politiker, Journalisten sollten kritischer mit den Zukunftsprognosen umgehen, die uns da vorgelegt werden. Die Prognostiker kennen die Zukunft auch nicht, sie rechnen Daten hoch. Leider manchmal mit versteckten und sogar dubiosen Annahmen. Was also wird bestimmend sein für die Zukunft des Landes und unseres Wohlstands? Neben der Bildung und der Verteilung des produzierten Reichtums beeinflussen sicherlich die Umweltschäden und die Finanzmärkte unsere Entwicklung. Dass Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne zu Löchern in den sozialen Systemen führen, ist ebenfalls augenscheinlich. Bei all diesen wichtigen Themen scheinen die Regierenden in Wirtschaft und Politik aber nicht recht weiterzukommen. Vielleicht hören wir ja deshalb so viel über die angebliche demographische Bedrohung.

Zum Schluss: Wenn unsere Wirtschaft auch nur schwach weiter wächst, wenn gleichzeitig die Menschen in Deutschland weniger werden, was bleibt dann für jeden Einzelnen übrig? Ein größeres Stück Kuchen. Wenn nicht jemand vorher ein Stück vom Kuchen klaut.

Gerd Bosbach, 58, lehrt Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Fachhochschule in Remagen. Zuvor war er Wissenschaftler im Statistischen Bundesamt.

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