Süddeutsche Zeitung

Demografie in Deutschland:"Dörfer verschwinden"

Während Metropolen wie München boomen, veröden ganze Landstriche. Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung im Gespräch über Tristesse, die Stadt der Zukunft und warum Orte mit 20 Rentnern keine teuren Abwasserkanäle bekommen sollten.

Von Tobias Dorfer

Egal ob München, Hamburg oder Frankfurt - die Großstädte in Deutschland boomen. Immer mehr Menschen lassen sich in den Metropolregionen. Dort finden sie nicht nur Arbeit sondern auch eine bunte Kulturszene, vielfältige Einkaufsmöglichkeiten und einen gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr. Die Kehrseite ist in der Provinz zu sehen. Die Jungen ziehen weg und hinterlassen leerstehende Häuser und alte Menschen, die entweder nicht mehr wegziehen können oder es nicht wollen. Ganze Landstriche in Deutschland vergreisen und werden nach und nach entvölkert. Einer Prognose des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung zufolge verliert eine Stadt wie Suhl in Thüringen zwischen 1990 und 2030 mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung - das ist der Spitzenwert in Deutschland. Steffen Kröhnert ist Leitender Wissenschaftler am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Im Interview erklärt der Sozialwissenschaftler, warum dieser Trend nicht zu stoppen ist, was das für die Boom-Städte bedeutet - und wie die Provinz einigermaßen lebenswert bleiben kann.

Süddeutsche.de: Herr Kröhnert, die Bevölkerungszahlen in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands aber auch im Saarland und in Nordbayern sinken rapide. Verödet die deutsche Provinz?

Steffen Kröhnert: Es gibt diesen Trend: weg vom Land, hinein in die Metropolregionen wie Hamburg, München und Frankfurt. Trotzdem sind Bevölkerungsprognosen auf Stadt- und Landkreisebene mit Vorsicht zu genießen.

Süddeutsche.de: Warum?

Kröhnert: Sie stützen ihre Berechnungen auf die Entwicklung in der Vergangenheit. Das ist im Prinzip sinnvoll, ignoriert aber mögliche Trendbrüche. Die hat es aber immer wieder gegeben. In den 90er Jahren zogen die Menschen in großer Zahl aufs Land. Inzwischen sind die Städte wieder sehr attraktiv. Ein Trend kann sich also drehen. Auch Städte, die heute noch schrumpfen, dürften sich auf einem niedrigeren Einwohnerniveau stabilisieren - zu Lasten allerdings der ländlichen Gemeinden im Umland.

Süddeutsche.de: Düstere Aussichten für die Dörfer.

Kröhnert: Man muss unterscheiden. Um ländliche Regionen im Umland der Großstädte muss man sich keine Sorgen machen. Und auch außerhalb von Metropolregionen wird es Städte geben, in denen das Leben blüht. Städte wie Weimar mit Hochschulen, einer lebendigen Kulturszene und Arbeitsplätzen zum Beispiel. Die Bevölkerungsverluste ländlicher Gemeinden nehmen zu, je abgelegener sie von einer Großstadt sind. Dort fehlt es häufig an Jobs, Infrastruktur und attraktiven Freizeitmöglichkeiten. Deshalb gehen die jungen Menschen. Und die Älteren sterben nach und nach weg.

Süddeutsche.de: Magazine wie Landlust brechen immer neue Verkaufsrekorde. Haben die Menschen in Wirklichkeit nicht eine Sehnsucht nach dem Leben in ländlichen Regionen?

Kröhnert: Ich halte das für ein reines Medienphänomen. Landlust ist erfolgreich, weil es die Sehnsüchte der städtischen Mittelschicht danach aufgreift, was diese mit Landleben assoziiert: Bodenständigkeit, selbst angebautes Gemüse, dörfliche Gemeinschaft, spielende Kinder im Garten. Aber diese Menschen werden nicht tatsächlich in abgelegene Dörfer ziehen und dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Zumal das reale Landleben mit dem, was in solchen Zeitschriften dargestellt wird, wenig zu tun hat.

Süddeutsche.de: Eben sprachen Sie noch von möglichen Trendbrüchen. Warum sollten die Menschen in 20 Jahren nicht den Charme der Provinz wieder für sich entdecken?

Kröhnert: Wir verändern uns von einer Industriegesellschaft zu einer Wissensgesellschaft mit Jobs, für die keine großen Fabriken gebaut, keine großen Flächen bewirtschaftet und keine Bergwerke betrieben werden müssen. Also ziehen die Unternehmen dorthin, wo die hochqualifizierten Menschen schon sind: in die Städte. Auch ein modernes Familienmodell - wie es die Jungen und Qualifizierten bevorzugen, lässt sich in ländlichen Gemeinden nur schwer leben.

Süddeutsche.de: Wieso?

Kröhnert: Heute sind häufig beide Ehepartner berufstätig. Beide haben in der Regel einen guten Berufsabschluss, arbeiten in der Stadt und brauchen dann auch noch eine Kita oder eine gute Schule für ihr Kind. Hinzu kommt, dass die Menschen insgesamt immer höher gebildet sind und deshalb auch höhere Ansprüche an das kulturelle Leben haben. Das ist aber mit einem Häuschen in einem abgelegenen Dorf schwer zu realisieren. Anders ist es natürlich in ländlichen Gebieten, die an die großen Städte wie München grenzen, etwa Dachau oder Starnberg. Die sind auch für junge Familien hochattraktiv.

Süddeutsche.de: Der Nachteil ist, dass sich eine Normalverdiener-Familie das Leben in einer Stadt wie München nur schwer leisten kann.

Kröhnert: Und trotzdem ziehen die Menschen in die Städte. Offenbar werden höhere Mieten durch höhere Löhne kompensiert. Es gibt natürlich Grenzen. Aber die Menschen, denen die Stadt zu teuer ist, ziehen nicht in die tiefste Provinz. Sie ziehen in die Landkreise um die Metropolen herum.

Süddeutsche.de: Im Münchner Umland sind die Mieten auch nicht viel günstiger. Muss da nicht die Politik gegensteuern?

Kröhnert: München mit seiner enormen Wirtschaftskraft und dem starken Bevölkerungswachstum ist ein Sonderfall. Aber sicher sollten die Städte eine kluge Wohnungspolitik betreiben. Vielerorts gibt es Brachflächen, die bebaut werden könnten. Zwar ist München mit 4300 Einwohner auf dem Quadratkilometer die am dichtesten besiedelte Stadt in Deutschland, aber London kommt auf 5000 - und Paris sogar auf 20.000. Da ist also noch Luft nach oben.

Süddeutsche.de: Verdichtung und Enge - können die deutschen Metropolen so überhaupt attraktiv bleiben?

Kröhnert: Wir werden in München keine Verdichtung wie in Paris erleben. Die großen Städte sind auch wegen ihres hohen Anteils an Grünflächen, der vielen restaurierten Gebäude und ihrer hohen Lebensqualität wieder so attraktiv geworden. Und in einer alternden Gesellschaft ist Verdichtung ohnehin nur in einem gewissen Ausmaß möglich. Wir werden zum Beispiel erleben, dass die Menschen im Durchschnitt eher in größeren Wohnungen leben. Stellen Sie sich eine ältere Dame vor: Da sind die Kinder aus dem Haus, der Mann stirbt - aber in der Regel bleibt sie in ihrer Vierzimmerwohnung. Ich glaube allerdings, dass neu gebaute Wohnungen in der Regel kleiner sein werden - alleine wegen der wachsenden Anzahl an Single-Haushalten.

Süddeutsche.de: Wie kann eine kluge Wohnungspolitik in den Städten konkret aussehen?

Kröhnert: Ich bin kein Stadtplaner - aber man sollte die Innenstädte nicht allein Investoren und Touristen überlassen. Wenn in Berlin-Kreuzberg, wo ich lebe, immer mehr Wohngebäude zu Hostels und Ferienwohnungen mutieren, ist das für die Menschen, die dort leben wollen, fatal. Hier sollte die Politik klare Genzen setzen.

Süddeutsche.de: Selbst wenn die Städte verdichtet werden und es bezahlbaren Wohnraum für alle geben sollte - der Andrang der Menschen ist so groß, dass sich viele die Mieten in Städten wie München nicht mehr leisten können. Wie kann das Problem gelöst werden?

Kröhnert: Indem die Regionen um die Großstädte herum besser eingebunden werden. Wir brauchen neue Konzepte von Mobilität. Ich stelle mir den öffentlichen Nahverkehr der Zukunft als wirkliches Netz vor - mit Bussen und Bahnen als Grundgerüst und mit günstig zu nutzenden Elektroautos oder Elektrofahrrädern, die an den Bahnstationen stehen und die Menschen zu ihren Wohnorten bringen.

Süddeutsche.de: Die Deutschen werden immer älter. Doch in einer Stadt wie München wird sich dem Demografiebericht zufolge die Alterspyramide nicht wesentlich verändern. Wie kommt das?

Kröhnert: Die Überalterung findet vorwiegend auf dem Land statt. Großstädte sind ein Magnet für junge Menschen aus dem In- und Ausland. Die Städte wachsen und der Zuzug junger Menschen sorgt dafür, dass sich der prozentuale Anteil alter Menschen nicht so stark erhöht. Trotzdem wird es in absoluten Zahlen mehr alte Menschen in den Städten geben. Die gehen ja nicht einfach weg.

Süddeutsche.de: Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer hat vor einigen Jahren einen Zukunftsrat installiert. Dessen Forderung: Gerade die Städte müssen finanziell gefördert werden, weil dort die Wirtschaft boomt. Soll die Provinz sich selbst überlassen werden?

Kröhnert: Die Politik trägt Verantwortung für die Lebensqualität aller Menschen. Allerdings fließen viele Fördermittel in ländliche Gebiete, ohne dass sie dort viel ausrichten oder gar den Bevölkerungsrückgang verhindern. Steuergelder dürfen nicht mit der Gießkanne verteilt werden, damit jede Gemeinde noch ein Gewerbegebiet, ein Baugebiet oder einen Spielplatz bekommt, selbst wenn niemand dies nutzt.

Süddeutsche.de: Vielleicht würde ein Spielplatz oder ein Gewerbegebiet die Gemeinde wieder attraktiver machen und den Bevölkerungsrückgang stoppen.

Kröhnert: In manchen Gemeinden kann das funktionieren, in vielen aber nicht - und dann ist das Geld verschwendet. Bislang denken sich in der Regel Bundes- und Landesministerien oder die EU aus, wofür man Förderprogramme auflegen kan. Und Städte und Gemeinden stricken dann Projekte, damit sie möglichst viel von dem Kuchen abbekommen. Egal, ob es sinnvoll ist oder nicht. Die Regionen sollten Regionalkontingente erhalten und selbst entscheiden dürfen, wofür und wo sie ihr Geld einsetzten und wo nicht mehr gefördert wird. Dafür müssten sich dann die gewählten Vertreter der Gemeinden zusammensetzen und eine Strategie für ganze Region entwerfen.

Süddeutsche.de: Das klingt nett. Aber so kann in manchen Orten, wenn überhaupt, nur die Grundversorgung erhalten werden. Und in den Großstädten gibt es Kultur, grenzenlose Mobilität und blühende Einkaufsstraßen. Ist das die Zukunft?

Kröhnert: Die regionalen Unterschiede, vor allem zwischen Metropolen und Peripherie werden größer. Doch gerade in entlegenen Gemeinden kann auch die Aktivität der Bewohner eine große Rolle spielen. Es gibt Orte, wo die Bürger selbst ein Dorfgemeinschaftshaus mit Lebensmittelgeschäft, Post und Bankdienstleistungen betreiben. Es gibt auch Konzepte von Ruftaxen und Bürgerbussen, die zum Teil ehrenamtlich betrieben werden.

Süddeutsche.de: Problematisch ist oft auch die medizinische Versorgung auf dem Land. Es gibt zu wenig Mediziner in der Provinz. Wie lässt sich dieses Problem lösen?

Kröhnert: In Brandenburg gibt es Versuche mit einer mobilen Praxis. Da fährt eine Zahnärztin durch das Land und behandelt die Menschen. Man kann auch darüber nachdenken, das Führen einer Zweigpraxis gesetzlich zu vereinfachen. Oder es gibt das Konzept der Gemeindeschwester. Diese Krankenschwestern mit Zusatzqualifikation können einige Aufgaben von den Ärzten übernehmen. Gerade viele alte Menschen rufen ja häufig auch wegen des sozialen Kontakts einen Arzt. Hier würde eine andere Form von sozialer Betreuung sehr helfen. Solche sozialen Innovationen sind Realität. Sie müssen nur besser gefördert und verbreitet werden.

Süddeutsche.de: Sie selbst haben dem Spiegel gesagt, "teure Abwasserkanäle für Orte mit 20 Rentnern" seien untragbar. Gönnen Sie den Menschen in der Provinz nicht einmal sauberes Wasser?

Kröhnert: Natürlich müssen die Menschen dort ihr Abwasser entsorgen können. Aber durch immer neue Gesetze und Vorschriften wurden die Kosten für solche Infrastruktur in der Vergangenheit immer höher. Wenn die Einwohnerzahl sinkt, gräbt das den Kommunen, die es bezahlen müssen, finanziell das Wasser ab. Denn auch bei weniger Einwohnern müssen die gleichen Anlagen unterhalten werden. Wir müssen uns fragen, ob diese Vorschriften und Standards aus den Zeiten des Bevölkerungswachstums wirklich alle nötig sind. Es gibt sicher dezentrale Lösungen, die Kosten sparen, ohne dass gleich die Versorgung zusammenbricht oder sie sich signifikant verschlechtert.

Süddeutsche.de: Wenn ganze Landstriche entvölkert werden, bleiben vor allem leere Flächen. Werden wir künftig auf den Ruinen leerer Dörfer in Sachsen Mais anbauen, um die Energiewende zu schaffen?

Kröhnert: Nur weil die Bevölkerung zurückgeht, entsteht noch nicht Platz für Neues. Es werden sich auch nicht Landstriche entvölkern, sondern vielleicht werden manche Dörfer verschwinden, während sich Klein- und Mittelstädte stabilisieren können. Doch die Flächen sind versiegelt. Wir haben einmal eine Studie im hessischen Vogelsbergkreis gemacht. Dort gibt es in jedem Dorf leerstehende Häuser. Aber die bleiben und werden nicht abgerissen. Auch die Industriebrachen, die es im Erzgebirge in jedem Ort gibt, reißt keiner ab - das ist viel zu teuer. Es braucht einen Fonds, der die Finanzierung übernimmt. Dann könnte man nachdenken, der Natur Flächen zurückzugeben. Vielleicht um Bäume zu pflanzen, um Bio-Landwirtschaft zu betreiben oder als Ackerfläche für Energiepflanzen.

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