Süddeutsche Zeitung

Democracy Lab:Der entscheidende Kampf: Liberalismus vs. Autoritarismus

Von Sebastian Gierke

Eine Frau, älter als 80 Jahre, nicht mehr gut auf den Beinen, bietet eine Breze an. "Sie sehen aus, als hätten sie Hunger", sagt sie, nimmt das Gebäck aus ihrer Papiertüte. "Ich kann ja gleich nochmal gehen, ich habe Zeit." Dann erzählt sie unvermittelt, wie sie als Jugendliche Musik gemacht hat, mit dem Akkordeon. Wie sie geübt hat, wie viel Spaß sie hatte und wie diszipliniert sie dabei gewesen sei. Kurze Pause. Disziplin sei wichtig gewesen damals. Nochmal Pause. Das habe auch an der Führung gelegen. Und dann: "Bös' hat er es ja nicht g'meint, der Adolf."

Das war ein Gespräch über Werte. Über Hilfsbereitschaft und Disziplin. Es zeigt, wie kompliziert das Thema, wie wichtig die Perspektive ist und welche Fallstricke vorhanden sind. Die Frau hat mit uns während der Deutschlandtour des Democracy Lab gesprochen (hier dazu mehr). Während dieser Tour haben wir Themen gesammelt, die das Land bewegen. Überall sprachen die Menschen die Frage nach den Werten an.

Im Netz gibt es von fast allem lange Listen, auch solche, die Werte aufführen, von A wie Abenteuer und Abgeklärtheit bis Z wie Zuverlässigkeit und Zweckmäßigkeit. Das Thema ist ein philosophisches, ein politisches, ein soziologisches. Das Thema ist schwer zu fassen.

Hier dennoch ein - notwendigerweise - unvollständiger Versuch, einige wichtige Thesen, entlang derer aktuell in Deutschland über das komplexe Themenfeld Werte und Demokratie diskutiert wird, darzustellen.

Werte werden für Wahlentscheidungen wichtiger

Warum wählen Menschen eine bestimmte Partei? Gibt die individuelle, die emotionale Parteibindung den Ausschlag? Sind es Faktoren wie Alter, Geschlecht oder Einkommen, Beruf? Oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe? Seit den 40er und 50er Jahren hat die empirische Wahlforschung dazu Modelle entwickelt. In den vergangenen Jahren rückte die Wertorientierung von Menschen stärker in den Fokus. Definiert als besonders dauerhafte und stark generalisierte Einstellung in Bezug auf Werte.

Der Grund: Auch heutzutage, in einer säkularisierten, modernen Gesellschaft, ist die Sehnsucht nach moralischer Orientierung vorhanden, genau wie das Wissen um die Kraft von Werten. Werte sind Instrumente, mit denen Menschen mobilisiert werden können. Immer seltener werden aber bestimmte Werte bestimmten Parteien zugeordnet. Eine Umfrage von SZ.de und dem Meinungsforschungsinstitut Civey zeigt, dass vier von zehn Deutschen ihre Wertvorstellungen von keiner Partei wirklich vertreten sehen. Die Parteibindung sinkt, die Zahl der Wechselwähler steigt. Immer mehr Wählerinnen und Wähler entscheiden sich spontan auf Basis ihrer individuellen Werteorientierung.

Der Politikwissenschaftler Markus Klein hat das im Jahr 2005 akademisch so beschrieben: "Angesichts einer rückläufigen Bedeutung der Sozialstruktur bei der Herausbildung gesellschaftlicher Wertorientierung sowie einer rückläufigen Bedeutung der Parteien für die Strukturierung des politischen Wettbewerbs scheint es ratsam, zukünftig Werte und die auf sie bezogene Wertorientierung direkt in den Mittelpunkt des analytischen Interesses zu rücken."

Populismus entsteht, wenn die grundlegenden Werte politischer Ideologien verschwimmen.

Freiheit, Gleichheit, gesellschaftliche Traditionen. Vereinfacht sind das die drei Werte, die den modernen politischen Ideologien Liberalismus, Sozialismus und Konservatismus zugrunde liegen. Die Demokratie ist eine einzige komplexe Verhandlung darüber, welcher dieser drei Werte die politische Entscheidungsfindung dominiert.

Dass die Bevölkerung die Ergebnisse dieser Verhandlungen akzeptiert, den Wettbewerb widerstreitender Ideen in einer Demokratie, das ist die Grundlage der Macht der Politik.

Wie kompliziert hier die Diskussionslinien verlaufen, zeigen einige der Hauptvorwürfe, denen sich Union, SPD und Liberale immer wieder ausgesetzt sehen. Die Union unter Merkel hätte so gut wie alle konservativen Positionen geräumt, heißt es da. Die SPD habe Gleichheit und Gerechtigkeit vernachlässigt und dem Neoliberalismus den Boden bereitet. Auf die freie Kraft des Marktes und damit auf Profitgier konzentriere sich die FDP ausschließlich, klassische liberale Werte fänden dagegen kaum noch Beachtung. Das Resultat dieser Entwicklung seien inhaltlich kaum zu unterscheidende Parteien. Der Essayist Pascal Bruckner beschreibt das als inhaltliches "Vakuum". Aus diesem heraus erscheine der Populist als Zauberlehrling, "der die Blässe des Gedankens mit Lautstärke wettmacht".

In seinem aktuellen Buch fragt Heinrich August Winkler: "Zerbricht der Westen?" Er warnt vor "illiberalen Demokratien", diagnostiziert eine Krise der westlichen Werte und der Demokratie. Damit ist Winkler nicht alleine.

Der Westen, damit meint der Historiker ein Projekt, das sich auf die aufklärerischen Grundwerte stützt und diese weiter verbreitet. Also die in der Verfassung festgeschriebenen Menschen- und Bürgerrechte, die Freiheit des Glaubens, die Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Rechtsstaat.

Dieses Projekt, ein dezidiert liberales, wurde lange Zeit sehr erfolgsversprechend betrieben. So erfolgreich, dass der amerikanische Politologe Francis Fukuyama 1992 schon das "Ende der Geschichte" ausrief. Nach dem Fall der Sowjetunion schien es, als habe sich die Demokratie westlicher Prägung als das endgültige Modell der Herrschaft herausgestellt. Das behauptet Fukuyama heute nicht mehr. Das Autoritäre ist auf dem Vormarsch. Der Liberalismus hat große Schwierigkeiten, sich vor fundamentalistischen Angriffen zu schützen. Die Beispiele, die zum Beleg dieser These dienen, sind so bekannt wie stichhaltig: USA, China, Russland, Ungarn, Polen, Türkei, die Liste ist nicht vollständig. Und die Menschen sind verunsichert, das hat auch die Deutschlandreise des Democracy Lab gezeigt.

Ein Narrativ verdient in dieser Diskussion noch Beachtung. Es lautet kurz: Der Liberalismus macht anfällig und schwach. Das scheint in der aktuellen Diskussion immer wieder auf, wird vor allem von der extrem Rechten verbreitet, ist aber auch auf der Linken zu finden.

Das irgendwie verweichlichte westliche Individuum, so argumentieren Vertreter der neuen Rechten in Deutschland beispielsweise, könne mit all seiner Toleranz und Freiheitsliebe den ideologisch gefestigten Invasoren nichts entgegensetzen. Arthur Moeller van den Bruck, völkisch-nationalistischer Staatstheoretiker des 19. Jahrhunderts und einer ihrer Vordenker, hat den Satz geprägt: "An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde."

Und der linke Philosoph Slavoj Žižek schreibt 2015: "Wie ist es also um die elementaren Werte des Liberalismus: Freiheit, Gleichheit und so weiter bestellt? Das Paradox ist, dass der Liberalismus selbst nicht stark genug ist, um sie vor den fundamentalistischen Angriffen zu schützen." Für Žižek ist es eine "erneuerte Linke", die dem Liberalismus zu Hilfe kommen muss. Er glaubt, nur wenn linke Werte wie Gerechtigkeit in der Gesellschaft eine übergeordnete Rolle spielen, könnten liberale Werte wie Toleranz und Offenheit überleben.

Werte können leicht missbraucht werden

Der Historiker Volker Weiß beschreibt in seinem Buch "Die autoritäre Revolte" eindrucksvoll, wie die sogenannte Neue Rechte versucht, die Gesellschaft radikal zu verändern. Weiß erklärt die Übergänge zwischen Konservativismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus und wie der Kampf um "die Hoheit über Moral, Sitte und Sprache" geführt wird, um kulturelle Hegemonie. Diesen Kampf beschreibt er als Versuch, das, was gesellschaftlich als "konservativ" akzeptiert werden kann, immer weiter nach rechts auszudehnen, als einen Kulturkampf, der das Ziel hat, Werte umzudeuten.

Das zeigt: Werte, obwohl oft als "Konzepte des Guten" definiert, haben auch eine andere Seite. Der Philosoph und Verfechter einer liberalen Demokratie, Marcel Gauchet, spricht deshalb statt vom "hohlen und nebelhaften Begriff der Werte" lieber von "starken Überzeugungen". Diese sind nicht per se gefährlich. Aber sie können missbraucht werden. Werte können missbraucht werden. Das passiert beispielsweise, wenn der CDU-Mann Jens Spahn sagt, es dürfe keinen "Rabatt auf unsere Werte" geben. Oder Innenminister Thomas de Maizière einen Wertekodex präsentiert und diesen populistisch zur Leitkultur erhebt. Werte werden so zum politischen Kampfmaterial gemacht und als solche wirken sie nicht mehr integrierend, sondern ausgrenzend. Werte können, mit Leidenschaft und Überheblichkeit vermischt, zur Ideologie werden, zu einem Wert sui generis, den man nicht mehr rechtfertigen muss.

Friedrich Wilhelm Graf, ehemals Ethikprofessor in München, schrieb 2016, dass schon der Wertbegriff "unausweislich exkludierend" wirkt. Er trüge schon immer die Unterscheidung von "wert" und "unwert" in sich. Da moralische Streitigkeiten in einer freiheitlichen Gesellschaft der Regelfall und legitim seien, würden Minderheiten ausgegrenzt, wenn die Werte der Mehrheit als die gemeinschaftlichen Überzeugungen aller gelten sollen. Das heißt aber nicht, dass über Werte nicht diskutiert werden sollte. Im Gegenteil. Nur im Austausch wird einem bewusst, dass Werte die Gesellschaft zusammenhalten, dass sie aber auch gefährlich werden können.

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