Süddeutsche Zeitung

Democracy Lab:Leben wie Monty Python in Frankfurt an der Oder

Vor 18 Jahren hat Michael Kurzwelly die deutsch-polnische Stadt Słubfurt gegründet. Was als Kunstprojekt gedacht war, verändert längst das Leben vieler Menschen.

Von Hans von der Hagen

Man könnte es ja einfach mal so sehen: Frankfurt an der Oder ist nicht nur der Ort direkt an der Grenze zu Polen, sondern der Nabel der Welt. "Falsch, falsch", würde jetzt Michael Kurzwelly freundlich, aber mit doch leicht gereiztem Unterton dazwischen gehen, wäre er beim Schreiben dieser Zeilen dabei. "Frankfurt gibt es doch gar nicht mehr!"

Mist, stimmt. Frankfurt gibt es ja nicht mehr. Dabei mahnt es Kurzwelly, als er wenige Tage zuvor neben einem steht, doch schon einmal an. Da trifft er den Reporter in dem Ort, der gemeinhin zwar noch Frankfurt heißt, aus Sicht von Kurzwelly aber längst zu Słubfurt geworden ist.

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Und: "Bitte nicht 'Slubfurt' aussprechen", sagt Kurzwelly. Das l wird doch mit einem Strichlein gekreuzt: ł - es muss also wie ein "w" ausgesprochen werden: Swubfurt.

Also, dann nochmal der Ordnung halber, weil das alles so kompliziert ist: Słubfurt ist der Nabel der Welt. Nicht Frankfurt. Und auch nicht Słubice, die Stadt direkt neben Frankfurt auf der anderen Seite der Oder, die die erste Silbe von "Słubfurt" stellt. Słubice existiert natürlich auch nicht mehr. Dafür ist Słubfurt die erste Stadt, die je zur Hälfte in Polen und in Deutschland liegt. Kommt ihm, Kurzwelly, das nicht manchmal irre vor? "Naja, das hat natürlich schon etwas von Monty Python." Andererseits: "Ist es nicht genauso crazy wie Deutschland oder Polen? Das sind doch auch nur konstruierte Wirklichkeiten, die funktionieren, weil alle daran glauben."

Dass Słubfurt eigentlich ein als Verein organisiertes Kunstprojekt, "eine soziale Plastik im Sinne von Beuys" ist und Kurzwelly der Initiator, lässt sich auf den ersten Blick kaum erkennen. Am ehesten noch am sogenannten Brückenplatz an der Carl-Philip-Emanuel-Bach-Straße, an dem der Verein Słubfurt vorübergehend Räume einer alten Grundschule nutzen darf.

Słubfurt gibt es nun schon seit 18 Jahren. Was als Idee des Malers Kurzwelly startete, der einst aus Westdeutschland der Liebe wegen nach Polen kam und nach der Trennung in Frankfurt blieb, ist längst ein soziales Projekt geworden. Es bietet jedem eine Heimat - zuletzt auch vielen Geflüchteten. Es gibt ein Cafè dort, einen Garten, eine Reparaturwerkstatt und eine Zeitbank, bei der Leute eigene Zeit im Austausch für die Zeit anderer bieten. "Vorübergehend" bedeutet, dass die Słubfurter das Areal nur nutzen dürfen, bis ein Investor kommt und der Stadt vorrechnet, wie er das Grundstück zu Geld macht.

Es existiert sogar ein gedruckter Słubfurt-Führer, in dem Sätze stehen wie "hier sprechen die Menschen polnisch, deutsch, englisch und natürlich słubfurtisch, was diesen Ort zu einem attraktiven Zentrum für Solarwirtschaft, Schattenwirtschaft, Gartenskulpturen und Touristen aus aller Welt macht". Oder: "Die St. Marienkirche ist die ehemalige Hauptpfarrkirche aus Zeiten der Stadt Frankfurt (Oder)." Zumindest im Rückblick wird Frankfurt noch akzeptiert.

Offenbarung im Supermarkt

"Warum", fragt Kurzwelly, fällt den Menschen eigentlich nichts Besseres ein, als sich über die Herkunft zu definieren? "Was sagt die denn schon über mich aus?" Wie absurd das eigentlich sei, habe er einmal Ende der neunziger Jahre gespürt, als er gerade in der Schlange einer Supermarktkasse stand. Ein Freund aus Poznań rief ihn an und Kurzwelly antwortet auf Polnisch. "Ich spürte richtig, wie die Atmosphäre um mich herum eisig wurde", sagt er. " Plötzlich fühlte mich ganz in der Haut eines Polen." Ähnlich war es freilich auch in Poznań: Deutsche waren dort auch nicht immer willkommen.

Den Hype um die Herkunft treibt er nun mit seinem Projekt selbst auf die Spitze - "um die Abstrusität herauszustellen". Denn auch die Gemeinsamkeit Słubfurt verbindet. Wie sehr, merkte er vor ein paar Jahren, als er und seine Mitstreiter eine "Olympiada" abhielten - einen Wettstreit mit Gubien, einem Verein, der ähnlich wie Słubfurt funktionierte, nur dass er die Städte Guben und Gubin vereinigte. "Wenn da jemand mit einer Fahne auf der Brust durch die Gegend rennt und gewinnt, dann freut sich eine ganze Nation - das ist doch lustig, dass das immer funktioniert."

Diese Melange aus Spaß und Ernst wirkt mitunter wie ein heiterer Gegenentwurf zu jener Stadt Frankfurt, in der viele sich wie weggeworfen fühlen. Vor allem, weil die Arbeitslosigkeit lange sehr hoch war und erst in den vergangenen Jahren merklich zurückging. Derzeit beträgt die Arbeitslosenquote knapp neun Prozent. Zugleich ist auch die Zahl der Einwohner erheblich geschrumpft: Lag sie zu DDR-Zeiten noch bei knapp 90 000, sind es mittlerweile nur noch 58 000. Zu nah ist das weit attraktivere Berlin. Wer kann, pendelt. Selbst viele Studenten der Europa-Universität kommen nur tagsüber nach Frankfurt - und vergnügen sich zu späterer Stunde wieder in Berlin. Schon am frühen Abend wirkt die Stadt mitunter wie ausgestorben. Von dem Leerstand können nicht einmal Wohnungssuchende profitieren: Die Mieten steigen, weil viele Wohnungen abgerissen werden.

Eine, die viel über das Leben in Frankfurt erzählen kann, ist Heiderose Päch. Sie wuchs dort auf, arbeitete aber nach der Heirat in einer Wäscherei, die in einem rund 200 Kilometer entfernten Ort zwischen Dresden und Leipzig lag. 1990 verlor sie die Arbeit und weil sie zehn Tage zu wenig in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatte, bekam sie kein Arbeitslosengeld.

Es folgten Jahre mit Alkohol, der Trennung von ihrem Mann und irgendwann auch von der Tochter, die in den Schwarzwald zog und bis heute nichts mehr mit ihr zu tun haben möchte. 2005 geschieht etwas aus ihrer Sicht Besonderes: Hartz IV wird eingeführt. Päch, die bis dahin nur von Sozialhilfe lebte und der nie Unterstützung zur Wiedereingliederung am Arbeitsmarkt angeboten worden war, konnte einen Computerkurs belegen: "Seither bin ich Computerfreak."

"Da habe ich so einen Hals gehabt auf die Flüchtlinge"

2012 kehrte Päch wieder nach Frankfurt zurück, um der neuen Nutzlosigkeit nach den Trennungen zu entfliehen. "Zuhause ist zuhause", sagt sie und meint damit Frankfurt. Auch wenn nun "groß keiner mehr da ist: Großeltern tot, Eltern tot, aber mein Bruder ist noch hier; und die Schulfreunde".

Im Vergleich zu DDR-Zeiten habe sich Frankfurt zum Schlechteren verändert, weil viele Betriebe geschlossen seien und: "Es ist auch nichts mehr los, vor allem die Generation die in den Kneipen nicht nur Hippeldihopp tanzen will." Nun, mit Ende fünfzig, sagt Päch: "Ich weiß nicht mehr, wie bezahlte Arbeit aussieht." 2016 kommt es allerdings zu einer merkwürdigen Begebenheit: Sie wird von einem Gericht zu 60 Sozialstunden verurteilt. Weswegen - das möchte sie nicht sagen. Sie fragt bei einem Verein in ihrer Nachbarschaft, ob der noch Leute brauche. Ne, antwortet man ihr, aber sie könne es doch mal am Brückenplatz probieren. Dort sei ein Herr Kurzwelly und der suche immer Leute.

Kurzwelly sagt tatsächlich ja und alles scheint gut für Päch. Bis Kurzwelly erwähnt, dass mittlerweile auch viele Geflüchtete kommen. "Da dachte ich nur noch: Prost Mahlzeit." Warum? Stille. "Im Nachhinein sage ich mir: Da ist eigentlich die Schuld meines Vermieters und nicht die der Flüchtlinge." Pächs Vermieter gehört ein Gebäude, das er für Flüchtlinge ausbauen ließ. Als das geschah, musste Päch für anderthalb Jahre in einer Übergangswohnung leben, weil die Renovierung ihrer Wohnung zunächst gestoppt wurde. "Da habe ich so einen Hals gehabt auf die Flüchtlinge." Sie habe sich fremd gefühlt im eigenen Land - wie zu DDR-Zeiten, als so viele Leute aus anderen sozialistischen Ländern kamen.

An ihrem ersten Tag am Brückenplatz saßen "drinnen überall Syrer". Sie waren gekommen, um Deutsch zu lernen. "Und dann stand ich da, mit meiner Meinung. Aber ich wurde aufgenommen, als würde ich schon lange dazugehören." Päch sagt den Satz nicht wie die anderen zuvor. Sie stockt kurz und muss erst mal durchatmen, bevor sie weitersprechen kann. "Jetzt komme ich bombig mit denen klar, vor allem mit meinem Charlottchen." Charlottchen ist eine Frau aus Kamerun, die sich vor allem um das Café Blabla kümmert.

Und was ist, wenn Sie wieder aufs Amt gehen?

"Dann bekomme ich sofort wieder einen Hals, wenn mir jemand sagt, dass er mir keine Wohnung geben kann, weil da Flüchtlinge rein sollen. Irgendwie sitze ich nun zwischen den Stühlen und weiß nicht, wie ich reagieren soll."

"Ach ja, das sind doch die Träumer"

Fragt man die Menschen jenseits des Brückenplatzes nach Słubfurt, sagen manche: "nie gehört". Andere: "Ja, kenn ich". Und die dritten: "Ach ja, das sind doch die Träumer." Bei vielen Frankfurtern hat das Projekt also offenbar keinen hohen Stellenwert, dafür umso mehr bei Geflüchteten. Die Arbeit teilt sich Kurzwelly mittlerweile mit seinem polnischen Partner Adam Poholski, der das Reparaturcafé betreut und auch Reisegruppen durch Słubfurt führt. Das Geld für das Projekt und die beiden Leiter kommt aus unterschiedlichen Fördertöpfen und "reicht immer nur von Projekt zu Projekt", sagt Kurzwelly. Aber "ich habe gelernt, Antragslyrik zu bedienen; bei manchen Institutionen zählt mehr der europäische Aspekt, bei anderen müssen deutsch-polnische Gesichtspunkte herauskristallisiert werden und bei wieder anderen eher die politische Bildung".

Geht man auf die Webseite von Frankfurt an der Oder, fällt sofort auf, dass sich zumindest auf einem Logo die beiden Städte als Doppelstadt präsentieren. Sogar mit zwei polnischen Wörtern: Bez granic. Ohne Grenzen. Es wirkt, als habe Słubfurt Pate gestanden. Ist das so? Kurzwelly bleibt vorsichtig: "Ob das unser Verdienst ist, kann ich nicht beurteilen. Aber gemessen an den früheren Händeschüttel-Performances auf der Brücke über die Oder hat sich Frankfurt ja doch schon weiterentwickelt. Zumindest auf technischer Seite: Es gibt bereits eine grenzüberschreitende Buslinie und eine Fernwärmeleitung. Eine gemeinsame Straßenbahnlinie wurde allerdings schon zwei Mal abgelehnt: Zunächst auf deutscher Seite, später auf der polnischen.

Da ist Słubfurt schon weiter, weil es vor ein paar Jahren zur Hauptstadt von Nowa Amerika aufstieg. Das ist noch ein Projekt von Kurzwelly, dafür reichte der Künstler Beuys als Vorbild allerdings nicht mehr - Kurzwelly nahm stattdessen Anleihe bei Friedrich dem Großen. Der Preußenkönig hatte einst eine Gegend an der Oder zu Neu-Amerika erklärt, amerikanische Ortsnamen wie New York, New Hampshire oder Pennsylvania inklusive. Potenzielle Auswanderer nach Amerika wollte der Alte Fritz so im Land behalten. Heute ist von diesen Orten nicht mehr viel erhalten, aber Kurzwelly hat nun seinerseits ein größeres Gebiet zu Nowa Amerika erklärt, mit unklarem Grenzverlauf, aber Oder und Neiße als Rückgrat. "Passenderweise bekamen wir auch Geld von der Kulturstiftung des Bundes aus dem Fonds Neuer Länder", sagt Kurzwelly. "Klar. Wir sind ja auch ein neues Land."

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