Wenn Menschen über Umweltschutz reden, dann kommen irgendwann die unangenehmen Dinge zur Sprache. In diesem Fall geht es darum, dass steigender Wohlstand zu mehr Umweltsünden führt und so den sogenannten ökologischen Fußabdruck der Menschen vergrößert. Kein Widerspruch, alle nicken. Viele in der Runde wissen, dass jeder und jede Deutsche über seine Verhältnisse lebt und drei Mal mehr Ressourcen verbraucht als ihm oder ihr dem globalem Durchschnitt entsprechend zusteht.
Da müsse man "ein Bewusstsein schaffen" für verantwortungsvollen Umgang mit seinem Reichtum. Und wenn das nichts helfe, dann müsse die Politik Regeln vorgeben. "Es muss wehtun, anders geht es nicht", fordert jemand. Bis eine Frau anmerkt: "Auf unsere neue, große Wohnung will ich aber nicht verzichten. Da bin ich ganz ehrlich."
In dieser recht typischen Situation fand sich dann niemand in der Gruppe, der der charmanten Dame die neue Wohnung wegnehmen wollte. Es entstand eher eine kurze Stille, in der wohl der eine an seine letzte Flugreise nach Asien, der andere an seinen sehr praktischen Geschäftswagen mit Tankkarte von der Firma und die dritte an ihren morgendlichen Coffee-to-go im Pappbecher dachte. Muss Umweltschutz wirklich wehtun?
Gemeinsam neue Gedanken entwickeln
Einige schmerzliche Wahrheiten kamen zu Tage, als wir von der Süddeutschen Zeitung im Rahmen des Democracy Lab in Stuttgart Station machten. Und das war auch gut so; auch das wollten wir erreichen bei der Debatte "Umweltschutz: Was tun gegen den Klimawandel und für die Natur?". Im Kulturzentrum Merlin im Stadtteil Feuersee sollten die Menschen reden, nichts verschweigen, nichts beschönigen, die Probleme diskutieren und dabei vielleicht auf ein paar neue Gedanken kommen.
Stuttgart war für dieses Thema natürlich ein idealer Ort. Neckartor - der Name steht für einen der größten deutschen Umweltskandale. Teile der Automobilindustrie haben mit einer illegalen Software die Abgaswerte ihrer Dieselwagen geschönt, weshalb die Autos im Straßenverkehr viel mehr Schadstoffe ausstoßen als bei der Abgasuntersuchung auf dem Stand. Auch deshalb ist in deutschen Städten und ganz besonders am Neckartor ganz in der Nähe des Stuttgarter Hauptbahnhofs die Luft schlecht. So schlecht wie nirgendwo sonst im Land.
Vor allem die Konzentration von Feinstaub und Stickoxiden ist sehr hoch. Die Messstation "an Deutschlands dreckigster Kreuzung" ist das schlechte Gewissen der Automobil-Industrie, nicht weit entfernt von den Werkstoren von Daimler und Porsche. Sie ist aber auch das schlechte Gewissen der deutschen Umweltpolitik, die bis heute keine tragfähigen Strategien oder gar Lösungen zu bieten hat ( ob ein Fahrverbot für Dieselautos das Feinstaubproblem lindern kann, steht in diesem SZ-Dossier).
35 Bürger kamen zur SZ-Debatte, so viele wie in den Raum im Merlin passten. Manche waren extra zwei Stunden mit dem Zug angefahren, andere stellten ihr Fahrrad vor der Eingangstür ab. Der Abend lief im Open-Space-Format ab: Als Veranstalter gaben SZ-Redakteure nur das überwölbende und in einer Online-Abstimmung ermittelte Thema vor, in diesem Fall "Umweltpolitik". Die Teilnehmer entschieden zu Beginn, über welche konkreten Inhalte sie miteinander diskutieren wollten. Die Wahl fiel auf:
- Zukunft der Mobilität in Stuttgart
- Ökologischer Fußabdruck vs. Komfortzone
- Umweltwirksamkeit und gesellschaftlicher Status
- Ernährung und Landwirtschaft
Jeder ging zu der Debatte, die ihn am meisten interessierte. Wer nichts mehr beizutragen hatte und nichts Neues mehr erfuhr, wechselte in eine andere Ecke.
Im Kulturzentrum "Merlin" stand wie unter einem Brennglas ein Ausschnitt der deutschen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, der in den vergangenen zwei Jahren vorgehalten wurde, sich voneinander entfremdet zu haben. Der Ton sei rau. Statt verschiedene Meinung auszutauschen und gesittet zu diskutieren, blaffe man sich lieber in Internetforen an. Das Democracy Lab der Süddeutschen Zeitung ist ein Versuch, die Mauern des Nichtverstehens ein kleines bisschen zu sprengen, miteinander ins Gespräch zu kommen. In Stuttgart funktionierte das.
Democracy Lab:Welche Folgen unsere Lebensweise für die Umwelt hat
Die Deutschen produzieren Unmengen von Müll - und gelten doch als Klimaschutz-Vorreiter. Welche Ziele setzen sich die Parteien? Wie löst man das Feinstaub-Problem? Was kann der Einzelne tun? Ein "Democracy Lab"-Dossier zur Umweltpolitik.
Einige sprachen viel und schnell, andere hörten hauptsächlich zu. Wie kriegt man die Menschen dazu, umweltbewusster zu leben? Wie ein Teilnehmer sagte: "Jeder weiß, dass mit unserem Lebensstil irgendwas nicht stimmt. Aber wer ist schon so konsequent, das im Alltag zu ändern?" Braucht es also Zwang? Oder lässt sich mehr erreichen durch das sogenannte nudging, also die Beeinflussung des menschlichen Unterbewusstseins mit kleinen Psycho-Tricks? Heißt Umweltschutz immer auch Verzicht? Was kann die Politik tun und müssen nicht auch die Verbraucher bereit sein, sich einzuschränken?
Mehr Roboter? Mehr Fahrräder? Mehr junge Leute aufs Land?
Viele Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Auch hier nicht. Doch Vorschläge und Ideen, die gab es zuhauf: öffentlichen Nahverkehr stärken, Radwege bauen, eine Citymaut für Autos. In der Landwirtschaft könnten bald Roboter zum Unkrautzupfen eingesetzt werden statt der vielen Gifte. Ein Teilnehmer schlug vor, es müsse ein Grenzwert für den persönlichen CO₂-Verbrauch der Menschen her.
Zum Thema Bauboom in Ballungsräumen sagte jemand: "Ihr jungen Leute müsst eigentlich aufs Land ziehen, in die leerstehenden Gebäude dort." Oder: Die Medien müssten viel mehr über Missstände berichten. Die Politik könne über Steuern das Verhalten der Leute ändern. Manch einer forderte sogar die Abschaffung des heutigen politischen und wirtschaftlichen Systems als Wurzel allen Übels.
Es war bisweilen anstrengend, das Democracy Lab in Stuttgart. Ein Herr verließ die Veranstaltung nach einer halben Stunde, weil es hier "vom Hundertsten ins Tausendste" ginge, er habe etwas anderes erwartet. Am Ende allerdings fanden die meisten der verbliebenen 34 Gäste, sie hätten Neues erfahren, frische Ideen erhalten, dazu neue Kontakte geknüpft. Diskussion als Begegnung - das alles im Labor in Stuttgart-Feuersee. Ein Labor aber, das Mut macht: Deutschland kann durchaus miteinander reden und die Probleme ehrlich besprechen. Auch wenn es manchmal wehtut.