Democracy Lab in Bremen:Sommerferien im ärmsten Viertel der Stadt

Democracy Lab in Bremen: Arian, Denis und Yaro in Bremen-Gröpelingen

Arian, Denis und Yaro in Bremen-Gröpelingen

(Foto: SZ (M))

Gröpelingen ist das, was man früher einen "sozialen Brennpunkt" genannt hätte: der ärmste Stadtteil Bremens. Die Kinder, die hier leben, haben uns gezeigt, warum sie ihn trotzdem lieben.

Von Hannah Beitzer und Thomas Hahn, Bremen

Yaro verschwindet fast im hohen Gras. Er ist ja auch erst sechs, ein zierlicher Junge. Aber seine Umgangsformen sind formvollendet und Gästen zeigt er gerne die kleinen Geheimnisse in dem kleinen Stadtgarten in Bremen-Gröpelingen. Sein Bruder Arian hat das Schloss am Eingang geöffnet, er ist einer der Hüter des geheimen Zahlencodes. Jetzt sind sie drin, Arian, 14 Jahre, der kleine Yaro und ihr Freund Denis, zwölf Jahre. Mit leisem Stolz führen sie über die eingezäunte Wiese, auf der Apfelbäume stehen.

"Können Sie mir noch folgen?", sagt Yaro und mahnt höflich zur Vorsicht, damit niemand in die nasse Furche hinter der Wasserpumpe tritt. "Da geht's lang, bitte." Dann steht er vor einer weiteren Kostbarkeit des Gartens, der passenderweise Apfelkulturparadies heißt: einem Maulbeerbaum mit reifen Früchten. "Nur die schwarzen sind gut", sagt Yaro und pflückt ein paar.

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Ferien in einem "Quartier mit besonderem Entwicklungsbedarf"

Es sind Sommerferien. Also die sechs Wochen im Jahr, die für Kinder eine halbe Ewigkeit sind, eine Zeit, in der die Tage ineinander gleiten. Sonnenaufgang, Spielen, Sonnenuntergang. Neue Lieblingsfreunde finden, neue Lieblingsbeschäftigungen, neue Lieblingsorte. Für Yaro, Arian und Denis liegen diese Lieblingsorte allerdings nicht in der Ferne. Wie viele Kinder aus Bremen-Gröpelingen können sie nicht weg, weil ihren Eltern das Geld fehlt für eine Reise in den Urlaub oder es der Aufenthaltsstatus nicht zulässt. Also erleben sie ihre Abenteuer hier, im Apfelkulturparadies des Quartierbildungszentrums. Oder auf dem Spielplatz in der Nähe, an dem sie wieder und wieder Aufschwünge an den Reckstangen üben, während aus den mitgebrachten Boxen finsterer Deutsch-Rap wummert.

Denis kam vor sechs Jahren mit seinen Eltern aus Bulgarien, Arian und Yaro stammen ursprünglich aus Syrien. Gröpelingen ist für viele Menschen aus anderen Ländern eine neue Heimat geworden. "Ich kann mich auch noch gut an Bulgarien erinnern", sagt Denis, während er durchs kniehohe Gras im Apfelkulturparadies läuft, "aber hier ist es für mich der schönste Ort." Hier, damit meint er nicht nur die abgezäunte Wiese, sondern sein Viertel, Gröpelingen. Das Viertel, in dem er seine endlosen Sommerferien verbringt. "Ich liebe es", sagt er.

Gröpelingen ist der ärmste Stadtteil der armen Stadt Bremen. Soziale Brennpunkte hat man solche Stadtteile in den Achtzigerjahren genannt. Das klang immer ein bisschen nach Krawall und ständigem Streit. Heute sprechen Stadtteilentwickler von "Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf", und das trifft es besser. Denn dass dort ständig und automatisch der Stadtteilsegen schiefhängt, kann man nicht sagen. Oft prägt eine dunkle Vergangenheit das Bild von Vierteln wie Steilshoop in Hamburg, Hasenbergl in München oder eben Gröpelingen in Bremen. Und in der Gegenwart ist es auch nicht leicht. Aber da ist eben noch mehr.

Davon erzählen Almut Rüter, die seit einigen Monaten hier Pastorin ist, und Rita Sänze, seit 2004 Quartiersmanagerin von Gröpelingen, bei Tee und Keksen im Gemeindehaus. Ja, natürlich, sagt Sänze: Viele Menschen seien auf Hartz IV angewiesen, es gebe viele Migranten, die schlecht Deutsch sprächen und Kinder, die mit ihren Eltern in kleinen Wohnungen lebten und mit den Geschwistern am Küchentisch die Hausaufgaben machten.

"Wir sind Gröpelingen": besonderer Lokalstolz

Oft lebten in Vierteln wie Gröpelingen Menschen auf engem Raum, die sonst nicht unbedingt zusammenleben würden: arabische Familien, Türken, Einwanderer vom Balkan, alte Gröpelinger. Da gibt es schon mal Stress. Zum Beispiel rund um das Thema Religion. Ein islamischer Kulturverein im Viertel ist im vergangenen Jahr wegen salafistischer Umtriebe verboten worden. Gerade die Radikalisierung von Jugendlichen sei ein Problem, erzählt Sänze. "Ich hatte schon weinende türkische Mütter vor der Tür stehen, die nicht mehr weiterwussten."

Diesen Tatsachen müssen sich alle im Quartier stellen. Eine andere Möglichkeit gibt es für die Bewohner nicht. "Menschen mit geringem Einkommen, unter sozialem Druck, können ihre Lebensbedingungen oft nicht selbst bestimmen", sagt Sänze. Sie können also nicht einfach wegziehen in einen schickeren Stadtteil mit anderen Nachbarn. "Viele Leute, die in Gröpelingen leben, waren noch nie im Stadtzentrum", sagt Rita Sänze. Sie fahren nicht zur Arbeit, gehen nicht einfach mal shoppen in die City, sondern eher in die türkischen und arabischen Läden im Viertel. Da ist es umso wichtiger, dass das Miteinander in der Nachbarschaft klappt.

Auch Almut Rüter kannte von Gröpelingen früher vor allem die traurigen Sozialdaten: "Ich dachte, ich komme in ein tristes Viertel voller Hochhäuser", sagt sie. Doch dann fand sie Gröpelingen gar nicht trist. "Es ist ein bunter Stadtteil, es gibt hier viel Grün und schöne Einfamilienhäuser, richtige Kleinode." Das zeigt auch ein Spaziergang durch den Stadtteil. Die größte Moschee Bremens steht unweit des Gemeindehauses. Es gibt die schmucken Einfamilienhäuser, von denen Rüter spricht, einen Grünstreifen, der sich von Norden nach Süden durch den Stadtteil zieht - aber auch zwielichtige Lokale und baufällige Häuser mit eingeschlagenen Scheiben, vor denen sich alte Möbel und Müll stapeln. Der Müll ist ein Dauerthema in Gröpelingen. "Da sagen viele Gröpelinger: Ich schäme mich dafür, wie es hier aussieht", sagt Rüter.

Ändern könne man das allerdings nur, wenn alle mitmachten und sich auf gemeinsame Regeln des Zusammenlebens einließen. Beide Frauen finden, dass es an vielen Stellen gelingt, auch dank der vielen engagierten Gröpelinger. Es gebe viele Netzwerke und Einrichtungen, die sich sehr für ein gutes Miteinander einsetzten, sei es der Verein "Kultur vor Ort", das Nachbarschaftshaus oder das Quartiersbildungszentrum.

Ferien in Gröpelingen

Auch ein Baumhaus gibt es im Apfelkulturparadies.

(Foto: Hannah Beitzer)

Auch im Apfelparadies streunen Yaro, Arian und Denis nicht nur herum. Sie helfen mit bei der Pflege des Gartens mitten in der Stadt. Erst tags zuvor haben sie mit anderen Kindern und Betreuern die Leiter zum Baumhaus repariert, und später im Jahr werden sie bei der Apfelernte dabei sein. Sie schnitzen sich Äste zurecht, machen Stockbrot über dem Lagerfeuer und bewundern dann den Schlag der Flammen. Im Garten lernen sie wie von selbst, dass man selbst anpacken muss, wenn man die Schönheit der Welt erleben will. Auch und gerade in Gröplingen.

Außerdem findet Almut Rüter: Nur weil die Leute auf dem Papier arm seien, bedeute das nicht, dass sie dem Stadtteil nichts geben können. In der Tat ist der Lokalstolz in solchen Quartieren oft besonders ausgeprägt. Wenn alle wenig haben, schweißt die Bescheidenheit im Idealfall zusammen. Und wenn in der unmittelbaren Nachbarschaft lauter Leute unterschiedlicher Herkunft leben, bekommt Integration eine gewisse Selbstverständlichkeit. In Gröpelingen tragen die Leute stolz einen Aufkleber: "Wir sind Gröpelingen". "Ich habe den auch, ich finde den gut", sagt Almut Rüter.

Reiten auf dem Bauernhof - mitten in Bremen

Die deutschen Städte sind nicht unbedingt dort am stärksten, wo sie schön sind. Sondern dort, wo die Bedingungen schlecht sind, die Leute aber etwas daraus machen wollen. Quartiere wie Gröpelingen werden so zu Maschinenräumen des sozialen Friedens im Land und entwickeln eine Bedeutung, die weit über die eigene Nachbarschaft hinausgeht. Wenn hier etwas schiefgeht, dann werden sie schnell zu Synonymen dafür, dass in Deutschland insgesamt etwas nicht stimmt, jegliche Differenzierung geht verloren.

Viele Einwohner fühlen sich in den Debatten um ihre Viertel stigmatisiert. Dabei unterscheiden sich ihre Wünsche oft nicht von denen eines Menschen in München-Schwabing. Auch die meisten von ihnen wollen in Frieden leben, ihren Kindern eine gute Zukunft ermöglichen. Nur ist das eben deutlich schwerer, wenn man kein Geld hat, keinen Job, keinen Schulabschluss, die Sprache nicht spricht. Armut vererbt sich, das ist kein Geheimnis. "Wir wissen ja alle, dass Bildung die einzige Möglichkeit ist, aus der Armut auszubrechen", sagt Rita Sänze. Und zwar nicht nur in der Schulzeit, sondern auch außerhalb.

Ferien in Gröpelingen - Democracy Lab in Bremen

Yvonne am Pferdegatter auf der Erlebnisfarm Ohlenhof.

(Foto: Hannah Beitzer)

Was Kinder von Pferden lernen können

Deswegen gibt es in Gröpelingen genug Ferienangebote für all die Kinder, die daheimbleiben müssen. Die Kirchengemeinde, die Arbeiterwohlfahrt, Vereine wie "Kultur vor Ort" - sie alle laden die Kinder zu Freizeiten, Kunstaktionen und Spielenachmittagen ein. Die elfjährige Yvonne zum Beispiel macht Ferien auf dem Bauernhof, ohne Gröpelingen zu verlassen. Direkt an der Grenze zum Stadtteil Oslebshausen, hinter der Justizvollzugsanstalt, vorbei an surrenden elektrischen Zäunen, liegt an den Bahngleisen die Erlebnisfarm Ohlenhof. "Ich bin jeden Tag hier", sagt das Mädchen mit den langen dunkelblonden Haaren. Sie hat eine Patenschaft für ein Kaninchen übernommen. "Es heißt Möhrchen." Außerdem liebt Yvonne Pferde. Gerade steht sie am Pferdegatter und streichelt den Hengst Opal, auf dem sie heute reiten will.

Auf der Farm leben außerdem Hühner, Ziegen, Schafe und Schweine, die so riesig sind wie Walrösser. "So sehen Schweine eben aus, wenn man sie einfach wachsen lässt, anstatt sie mit nicht einmal einem Jahr zu schlachten", sagt Petra Bodenstein. Sie ist eine der Betreuerinnen auf der 3,5 Hektar großen Farm. Es gibt Gewächshäuser, Hochbeete, mehrere Weiden, ein "grünes Klassenzimmer", Lagerfeuerstellen und einen Spielplatz.

Ferien in Gröpelingen

Auch Ziegen wohnen auf der Erlebnisfarm Ohlenhof.

(Foto: Hannah Beitzer)

Wenn nicht gerade Ferien sind, werden hier zum Beispiel Schulschwänzer betreut, eine heilpädagogische Tagesgruppe trifft sich in einem Holzhaus direkt neben Bodensteins Büro. Auch viele Schulen und Kindergärten aus dem Viertel kommen regelmäßig zur Farm, um Gemüse in den Hochbeeten zu pflanzen. Und in den Ferien können die Kinder aus dem Viertel reiten, rennen, turnen, Tiere füttern, kochen und feiern. Heute steht Voltigieren auf dem Programm, Gymnastik auf dem Pferderücken.

Seit 2002 bietet die Farm regelmäßig Reitkurse an, wie alle Angebote auf der Farm sind sie umsonst. "Reiten ist ja eigentlich ein sehr teurer Sport", sagt Bodenstein. "Viele der Kinder, die hier wohnen, könnten sich das nicht leisten." Dabei könnten sie im Umgang mit Pferden viel lernen: Geduld und Verantwortungsgefühl, Respekt vor anderen Lebewesen, Körperbeherrschung.

Voltigieren auf Opal

Heute sind außer Yvonne noch vier Mädchen gekommen, die das Voltigieren einmal ausprobieren wollen, einige von ihnen saßen noch nie vorher auf einem Pferd. Die Kinder wärmen sich erst einmal auf, sie rennen im Kreis, springen auf und ab, dehnen ihre Beinmuskulatur. Einige der Mädchen verstehen die Anweisungen sofort, andere wissen nicht so recht, wie ein Hampelmann geht.

Yvonne zieht ihre Schuhe mit den kleinen Absätzen für die ersten Übungen auf dem Holzpferd lieber aus und turnt in bunten Socken. Manche haben danach Angst davor, vom Holzpferd auf das echte Pferd zu wechseln. Aber Petra Bodenstein hat für die Voltigierstunde extra den Kaltblüter Opal ausgesucht. "Er ist ein Therapiepferd und hat schon mit behinderten Menschen gearbeitet", sagt sie. Wenn ein Kind mal von seinem breiten Rücken rutscht, bleibt Opal einfach stehen.

Als Erste traut sich die sechsjährige Jenny. Mit ein bisschen Stütze richtet sie sich auf Opal auf. Eine Runde trottet der Hengst mit der auf seinem Rücken stehenden Jenny im Kreis. Ihre Knie wackeln, aber das Mädchen schaut stolz in die Runde. Nach und nach klettern alle Mädchen aufs Pferd, einige trauen sich mehr, andere weniger. Dann ist die Stunde schon vorbei. Am nächsten Tag wollen alle wiederkommen.

Die Namen der Kinder wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert.

Dieser Beitrag ist Teil des SZ-Projekts Democracy Lab, in dem wir vor der Wahl über Ihre Themen diskutieren wollen. Lesen Sie mehr dazu:

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