Democracy Lab:"Zu Wort kommen nur noch die Lauten"

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SZ-Redakteur Jakob Schulz präpariert den Bus für den Bürgerdialog in Jena. (Foto: Jessy Asmus)
  • Unter dem Motto "Wir müssen reden" sind SZ-Redakteure zwölf Tage lang quer durch Deutschland gefahren. In zwölf Städten haben wir Menschen gefragt, was sich ihrer Meinung nach in Deutschland ändern muss.
  • Wir haben mit Ihnen über Bildung und Flüchtlingspolitik diskutiert, über die AfD und unsere eigene Arbeit - und über die Abschaffung des Mittwochs.
  • Anfang August können Sie online abstimmen, worüber wir weiter sprechen sollten - bei Diskussionen in mehreren Städten und im Netz.

Von SZ-Autoren

Der politische Diskurs in Deutschland ist ruppig geworden. Gemeinsam mit Ihnen wollen wir im Wahljahr herausfinden, wie wir ihn verbessern können. In der ersten Etappe des SZ Democracy Lab gehen wir der Frage nach: Was muss sich in Deutschland ändern?

SZ-Redakteure sind zwölf Tage lang quer durch Deutschland gefahren. In zwölf Städten abseits der großen Metropolen haben wir den VW-Bus der SZ geparkt, Bierbank, Sonnenschirm sowie Gummibärchen ausgepackt und den Menschen im Land zugehört. Das Motto: "Wir müssen reden!" Was wir während der Deutschlandreise erlebt haben - ein Überblick:

Die Stationen

Dienstag, 27. Juni: München

Mittwoch, 28. Juni: Wolfratshausen

Donnerstag, 29. Juni: Gelsenkirchen

Freitag, 30. Juni: Gelsenkirchen

Samstag, 1. Juli: Worms

Sonntag, 2. Juli: Mannheim

Montag, 3. Juli: Bremen

Dienstag, 4. Juli: Bremerhaven

Mittwoch, 5. Juli: Frankfurt/Oder

Donnerstag, 6. Juli: Beeskow (Brandenburg)

Freitag, 7. Juli: Jena

Samstag, 8. Juli: Ronneburg (Thüringen); Schmölln (Thüringen)

(Alle Einträge im Reisetagebuch können Sie hier nachlesen.)

Die Menschen

Manche kommen gezielt zum SZ-Bus - in Bremen sogar eine Gruppe Politik-Studenten mit ihrer Dozentin sowie Schüler einer "Demokratiewerkstatt". Andere werden im Vorübergehen neugierig. Und einige, wie ein Mann in Beeskow, nehmen sich gleich eine Handvoll der Postkarten mit, auf denen wir Ideen für ein besseres Deutschland sammeln. Er sucht sich einen Platz in der Nähe unseres Busses, füllt sie in Ruhe aus und bringt eine nach der anderen zurück.

Wir treffen Menschen unterschiedlichen Alters, Frauen wie Männer, Deutsche und Ausländer, SZ-Leser und Nicht-SZ-Leser. Und lernen viel über unser Land.

Die Themen

Oft geht es bei den Gesprächen am Bus um unerschwingliche Mieten, veraltete Ausstattung von Schulen und die Verkehrspolitik. Es gibt auch ungewöhnliche Ideen wie die Einführung eines Unterrichtsfachs "Vorbereitung auf das Leben" oder die Abschaffung des Mittwochs. Es ist ein breites Themenspektrum, mit dem wir auf unserer Reise konfrontiert werden.

Werte: Für überraschend viele Besucher sind Respekt vor dem Nächsten, Anstand und Zurückhaltung sehr wichtig - denn sie vermissen all das. Was die Politik beitragen kann? Mehr Bildung, sagt ein Mann in München. "Das ist eine Frage der Erziehung."

"Man hört sich nicht mehr zu", findet eine ältere Dame in Wolfratshausen. Zu Hause, mit den Nachbarn, im Stadtrat. Auch in der großen Politik fehle es an Respekt voreinander. "Das führt zu einer Zwei-Klassen-Gesellschaft in der Meinungsbildung: Zu Wort kommen nur noch die Lauten, die Lobbyisten mit ihren Schlagwort-Argumenten. Und die Bescheidenen hört man nicht."

Kluft zwischen Arm und Reich: Im Osten Deutschlands, etwa in Ronneburg, hören wir auf die Frage, was sich in Deutschland ändern muss, öfter als anderswo: "Alles." Und dann, nach einer Nachfrage: "Für die eigenen Leute müsste man was tun." Die große Kluft zwischen Arm und Reich im Land beschäftigt die Menschen. "Die in Berlin, die müssen mal einen Schuss vor den Bug bekommen", sagt ein Mann. Er wird die AfD wählen.

Asyl und Flüchtlinge: Das Thema Asyl und der Umgang Deutschlands mit Flüchtlingen treibt viele Menschen um. "Die Leute reden untereinander darüber", sagt einer der vielen Älteren, die am Bus das Gespräch suchen. "Sie reden untereinander, aber nicht offen. Weil sie Angst haben, dass man sie für Nazis hält." Das Thema kommt dann aber doch.

"Ihr wollt wirklich meine Meinung hören?", fragt ein Mann in Frankfurt an der Oder ungläubig. Er will gerne etwas loswerden, weil es ihn zu quälen scheint. Drei Mal bittet er darum, "nicht in die rechte Ecke gestellt" zu werden. Dann sagt er: "Das funktioniert einfach nicht, wenn so viele Flüchtlinge kommen. Es macht unsere Kultur kaputt. Und für uns bleibt nichts mehr übrig. Kein Geld, keine Wohnungen, keine Arbeit."

Es seien zu viele Ausländer in Deutschland, beklagt sich auch eine Frau in Worms. Sie fürchte sich vor Terroristen. Die Frau spricht gebrochen Deutsch. Sie lebt seit 27 Jahren hier, nun überlegt sie, heimzukehren in die Dominikanische Republik. "Ich habe Angst."

Hört man länger zu, fragt man nach, kommen hinter zunächst eindeutigen Parolen differenziertere, überraschende Meinungen an die Oberfläche. Gerade beim Thema Asyl. Eine Frau in Mannheim hat in ihrem Viertel ein ungutes Gefühl auf der Straße - wegen der Flüchtlinge in einem Flüchtlingsheim. Sie fordert aber keineswegs, die Menschen wegzuschicken. Sie will vielmehr, dass sie arbeiten dürfen, um nicht jeden Tag die Zeit totschlagen zu müssen. Arbeit für Flüchtlinge - als Rezept gegen deutsche Angst.

Bei einigen Begegnungen steht am Ende die Erkenntnis: Hauptsache, wir reden miteinander. Auch wenn man sich beim Abschied nur darin einig ist, vollkommen uneins zu sein.

Kritik an uns, den Journalisten: Auch unsere Arbeit als Journalisten wird an vielen Orten diskutiert und kritisiert. "Journalisten suchen ja immer das Ungewöhnliche", sagt eine Frau in Frankfurt. Ihre Bitte ist, das Besondere im Alltag zu erkennen, das viel wichtiger und aussagekräftiger sein kann als ein Ereignis, das kurz Aufsehen erregt. Normalität sei die Sensation unserer Zeit, sagt sie.

In Jena beklagt ein Mann einen "Erziehungsjournalismus", der selbst neutralen Darstellungsformen wie der Nachricht einen Spin verleihe oder Meinungen jenseits des politischen Mainstreams gleich ganz ausblende: "Das haben die Leute satt." In Worms werden wir als "Lügenpresse" beschimpft von einem Rentner. Es folgt eine Tirade auf die Medien im Allgemeinen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und seine Gebühren im Speziellen - und nach einem längeren Gespräch die Bemerkung, das mit der "Lügenpresse" sei natürlich "eine kleine Übertreibung".

Schluss mit Bequemlichkeit und Wehklagen: Die große, die Tour begleitende Frage - Was muss sich in Deutschland ändern? - führt auch zu viel grundsätzlicheren Antworten, etwa in Schmölln. Eine Eisverkäuferin sagt lächelnd: die Menschen. Die sollten nicht immer andere für ihr Unglück, ihre Fehler, ihre Unzufriedenheit verantwortlich machen - sondern endlich begreifen, dass sie das Allermeiste doch letztlich selbst in der Hand hätten. Der Staat, die Politik, die Wirtschaft, damit müsse man schon umgehen können, durchaus. Wer aber aus Bequemlichkeit immer nur mit dem Finger auf andere zeige, der werde seines Lebens am Ende nicht froh.

So groß der Ärger bei den einen ist: Viele Menschen wirken auch sehr zufrieden. In Mannheim sagt ein junger Mann nach längerem Überlegen, dass er sich etwas mehr Flexibilität bei der Elternzeit wünsche. Ansonsten aber sei er "sehr zufrieden" mit der Politik. Eine Frau merkt an, dass sehr viel gemeckert werde in Deutschland - zu viel. Und ein älterer Mann sagt im Vorbeigehen: "Ich bin mit unserem Land, so wie es ist, zufrieden. Es geht uns gut."

Das Projekt - wie es weitergeht

Wir sehen uns Ihre Vorschläge, die wir auf Karten gesammelt haben, nun genau an. Außerdem werten wir bis Montag aus, welche Forderung über unsere Online-Aktion "Malen Sie uns Ihre Meinung" ( mehr dazu hier) oft eingespeist wurden.

Eine Auswahl besonders häufig genannter, spannender und relevanter Themen stellen wir kommende Woche online zur Abstimmung. Jeder kann mitentscheiden, worüber wir in der zweiten Etappe debattieren werden.

Zu jedem dieser Schwerpunkte erstellen wir ein Kompakt-Dossier mit den wichtigsten Informationen. Im August und September wollen wir dann wieder mit Ihnen ins Gespräch kommen - bei Diskussionen in mehreren Städten und im Netz. Weitere Details finden Sie in Kürze unter www.sz.de/democracylab.

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