Rechter Sturm auf Bundestag:Entsetzen bei Holocaust-Überlebenden

Zur Demonstration hatte die Stuttgarter Initiative "Querdenken 711" aufgerufen, deren Sprecher sich am Sonntag von den Vorfällen vor dem Reichstagsgebäude distanzierte. Allerdings hatte auch die NPD, so genannte "Identitäre", AfD-Politiker und andere rechts- bis rechtsextreme Gruppen zur Teilnahme an der Demo von Querdenken aufgerufen. Überall waren massenhaft Flaggen mit Reichsadler, T-Shirts in Frakturschrift und andere Symbole von Rechtsextremisten zu sehen.

Gewohnt sibyllinisch und perfide äußerte sich dann auch die Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel: "Es ist inakzeptabel, dass einige Chaoten nach der friedlichen Corona-Demonstration in Berlin die Polizei-Absperrungen vor dem Reichstag durchbrochen haben. Dieses Verhalten ist genauso falsch wie der Missbrauch des Reichstages durch Greenpeace-Aktivisten für ihre Propaganda vor einigen Wochen", erklärte sie am Sonntag. "Das Gebäude steht für den parlamentarischen Meinungsstreit im Plenarsaal und darf nicht als Objekt politischer Auseinandersetzungen auf der Straße missbraucht werden - egal von welcher Seite." Schräg dann nur, dass bei den "Chaoten" ein Mitglied ihrer Jugendorganisation "Jungen Alternative" in der ersten Reihe dabei war.

Das Internationale Auschwitz Komitee beklagte, es sei ein "trauriges und schmerzliches Signal", dass in Deutschland Demonstranten immer bedenkenloser mit "antisemitischen Verschwörungstheoretikern, ausgewiesenen Nazigruppen und Rechtsextremen gemeinsame Sache" machten. "Trotzdem vertrauen und hoffen die Überlebenden des Holocaust darauf, dass die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland sich weiter diesen Attacken auf den demokratischen Staat verweigern und entgegenstellen wird", sagte der Exekutiv-Vizepräsident des Komitees, Christoph Heubner, am Sonntag.

Auch der Zentralrat der Juden kritisierte die Vorkommnisse in der Hauptstadt. "Wir sind bestürzt und zutiefst besorgt über die gestrigen Bilder vor dem Reichstagsgebäude", hieß es auf Twitter. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, äußerte sich ebenfalls auf dem Kurznachrichtendienst kritisch.

Auch der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer nannte es erschreckend, wenn Veranstalter und Teilnehmende keinerlei Probleme damit hätte, "Seite an Seite mit Rechtsextremisten unterwegs zu sein, die unsere Demokratie verhöhnen". Gleichwohl sei es eine Stärke der Demokratie in Deutschland, dass "Menschen die krudesten Thesen in aller Freiheit äußern" dürften, schrieb der katholische Geistliche auf Facebook.

Rechtsextreme haben die Proteste gegen die Pandemie-Politik in Deutschland nach Einschätzung eines Experten schon früh geprägt. Innerhalb der Protestbewegung werde die Auseinandersetzung über die Frage, ob man mit extremen Rechten auf die Straße gehen wolle, nach seiner Beobachtung bislang nicht offensiv geführt, sagte Simon Teune vom Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin der dpa. Auch bei Protesten am Samstag habe die extreme Rechte "das Demonstrationsgeschehen stark geprägt": "Den Reichstag, die Treppen hochzustürmen, das war eine Aktion, die von diesen Gruppen ausgegangen ist."

Es sei denkbar, dass die sogenannten Hygiene-Demonstrationen sich daran auseinanderdividierten, "weil sich die Leute entscheiden müssen, ob sie sich an der Seite von Holocaustleugnern, von Hooligans und von Reichsbürgern wohlfühlen oder nicht. Und sie werden auch diskutieren müssen, warum sich solche Gruppen von den Protesten angezogen fühlen." Wie eine solche Diskussion ausgehe, sei schwer abzusehen.

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