Degler denkt:Im Mehltau zur Urne

Die Bundestagswahl naht - und den größten Medienzulauf hat ein Kanzlerkandidat, der eigentlich gar keiner ist: Warum mitten im Wahlkampf die Stimmung im Land so unpolitisch ist.

Dieter Degler

Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Bundestagswahl - und doch will sich, mitten in den Sommerferien, keine rechte Wahlkampfstimmung einstellen. Die Titelverteidigerin entspannt siegesgewiss im Südtiroler Urlaubsdomizil, der hoffnungsarme Herausforderer reist über die Dörfer.

Degler denkt: Kanzlerkandidat Horst Schlämmer beantwortet die Fragen, die die echten Politiker gerne gestellt bekommen würden.

Kanzlerkandidat Horst Schlämmer beantwortet die Fragen, die die echten Politiker gerne gestellt bekommen würden.

(Foto: Foto: dpa)

Die als Wahlkampfauftakt gedachte Präsentation seines Schattenkabinetts ist verpufft, seine nicht so genannte Agenda 2020 wirkt zwar nach vorne gewandt und optimistisch, aber auch abgestanden und abgeschrieben bei Grünen und Linken.

Wie Mehltau liegt eine unpolitische Stimmung über dem Land. Typisch dafür: Die Aktion "Geh nicht hin", in der Medienhelden von "Tagesschau"-Sprecher Jan Hofer über Detlev Buck bis zu Sandra Maischberger zur Nichtwahl aufrufen. Das ist zwar ironisch gemeint, kommt aber daher, als sei es völliger Ernst. Jedenfalls ist es bei weitem nicht so überzeugend wie das amerikanische Vorbild "fivemorefriends" auf Youtube. Mit dieser Kampagne ließ Steven Spielberg vergangenes Jahr Weltstars wie Ben Stiller, Tom Cruise, Julia Roberts, Cameron Diaz und "Borat" die US-Bürger zur Urne rufen.

Typisch auch: Den größten Medienzulauf hatte diese Woche ein Kanzlerkandidat, der gar keiner ist. Zur Präsentation des Horst-Schlämmer-Films "Isch kandidiere" wollten rund 200 Journalisten von dem Komödianten Hape Kerkeling all das wissen, was Steinmeier, Westerwelle und Merkel gerne gefragt werden würden. Die Politikerdarsteller lassen sich, um Leute ins Kino zu locken, mehr einfallen als die Realpolitiker, die Bürger zur Stimmabgabe bewegen wollen.

Am 27. September könnte die Wahlbeteiligung, die in den siebziger Jahren noch bei mehr als 90 Prozent lag und seither sinkt, erstmals unter 75 Prozent fallen. Und vielleicht kann es nach vier Jahren großer Koalition, in denen die Unterschiede zwischen schwarz und rot zu einer kaum noch differenzierbaren Politmelange verschwommen sind, kaum anders sein: Es gibt kein Lagerdenken mehr, keine Guten und Bösen, nach denen Wähler zu Adenauers, Brandts und Kohls Zeiten das politische Personal sortieren konnten.

Stattdessen schmort alles im Konsensualen: Angela Merkel (CDU) hat, gemeinsam mit Peer Steinbrück (SPD), die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten mit Geschick ausgeschaukelt, und zwar besser als die Kollegen Brown, Berlusconi und Zapatero. Zugleich ist es ihr gelungen, für ordnungspolitische Missetaten wie die Verstaatlichung von Banken nicht haftbar gemacht zu werden. Und der große Einbruch bei der Automobilindustrie, auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen wird erst spür- und sichtbar werden, wenn die Wahl längst vorbei ist.

In allen Parteien fehlen die polarisierenden jungen Wilden, die es einst mit Schröder, Lafontaine und - ein bisschen - mit Scharping zumindest bei der SPD mal gab. Über einen heimischen Obama verfügen weder CDU noch SPD, nur die CSU stellt einen Bundesminister mit Ausstrahlung. Doch er ist der Einzige mit Appeal für jüngere Wähler, jene Gruppe, die besonders ungern zur Wahl geht. Wenn Guttenberg am Kabinettstisch sitzt, wirkt er zwischen all den Wieczoreks und Schäubles wie ein Enkel, der seine Großeltern im Gruppenraum eines Edel-Altenheims besucht.

Obwohl es im Angesicht der Folgen der Weltwirtschaftskrise bei dieser Wahl um eine der wichtigsten Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik geht, herrscht erstaunliche Ruhe. Das liegt an den Akteuren, an der Abwesenheit großer, Alternativen bietender Zukunftsentwürfe, aber auch am Publikum, das es Regierenden und Kandidaten leicht macht. Kaum jemand geht noch für oder gegen etwas auf die Straße, schon gar nicht für ein besseres Gesellschaftssystem.

Die Ruhe vor der Wahl muss nicht Parteienverdrossenheit bedeuten. Sie kann auch Zufriedenheit mit einem System signalisieren, in dem sich die politischen Inhalte der beiden Großparteien immer weiter annähern. Und das, verglichen mit dem Rest der Welt, ziemlich gut funktioniert.

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