Februar 2014: Am Ende liegt Rauch und Asche über dem Maidan, mehr als 100 Menschen sind tot. Präsident Viktor Janukowitsch ist nach Russland geflohen. Vor einem Jahr geschah, was zunächst als blutiger Höhepunkt der ansonsten friedlichen Maidan-Revolution galt. Heute muss man sagen: Es war erst der Anfang. Die Ukraine versinkt in einem Krieg, dessen Ende sich niemand mehr vorstellen kann. Ein Krieg, der auch andere Länder Europas tief in ihrem Selbstverständnis berührt und zu der Frage führt: Was ist das überhaupt, Europa? Und ist es stark genug für diesen Kampf? Ein Überblick in ausgewählten Debattenbeiträgen aus dem Netz.
Europa - ein ferner Traum junger Ukrainer
Am Anfang stand der Traum von Europa. Junge Ukrainer gingen im Herbst 2013 auf die Straße, um für eine engere Bindung ihres Landes an den Westen zu demonstrieren. Doch bald schon ging es ihnen um mehr: Um den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft, für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und vor allem für Freiheit. So erzählen es junge Ukrainer, die auf dem Maidan protestiert haben. Europa ist für sie mehr als nur ein Sehnsuchtsort, ein "Ort, an den man schwer hinkommt", wie eine Aktivistin im Gespräch beklagt. Es ist eine Utopie, das Versprechen einer besseren Zukunft. Und die Ukraine ein Land, das mittendrin hängt zwischen Westen und Osten, zwischen Europa und Russland.
"Dass der Westen das Reich der freien Menschen sei, dass im Osten aber die Unterdrücker herrschen: das haben wir nicht erst seit dem Beginn des Kalten Kriegs geglaubt", schreibt Claudius Seidl in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zum Streben der jungen Ukrainer in Richtung Europa - denn: "Meistens meinen wir den Westen, wenn wir von Europa, seinen Werten und Idealen sprechen." Europa sei eine geografische Tatsache, der Westen aber ein Projekt: "Man kann ihm beitreten, man kann sich auf den langen Weg machen. Wir Deutschen, die wir eben erst im Westen angekommen sind, sollten keinen Nachzügler abweisen."
Julian Hans argumentiert in der Süddeutschen Zeitung aus historischer Sicht: "Die Bruchlinien sind in der Geschichte des Gebietes angelegt, das mal von den Tataren überrannt wurde, mal unter litauischer, polnischer, habsburgischer Herrschaft und schließlich auch deutscher Besatzung stand und das seine gegenwärtigen Grenzen erst als Republik der Sowjetunion fand." Er zieht wie Seidl den Schluss: "Kein Volk und keine Nation ist dazu verdammt, sich auf ewig von der Geschichte bestimmen zu lassen." Wo die Ukraine hinstrebe, habe sich auf dem Maidan gezeigt: nach Westen.
Steht ein neuer Kalter Krieg bevor?
Es gibt allerdings auch viele, die das anders sehen. Sie warnen davor, zu weit in die Interessensphäre Russlands (und seines Präsidenten Wladimir Putin) einzudringen, zu der sie die Ukraine rechnen. Oder werfen dem Westen vor, mit der Nato-Osterweiterung längst zu weit vorgedrungen zu sein.
Die wichtigsten Stimmen dieser Sichtweise versammelten sich im Dezember 2014 unter dem Appell "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!". Altkanzler Gerhard Schröder gehörte zu den Unterzeichnern, die ehemalige ARD-Korrespondentin in Moskau, Gabriele Krone-Schmalz, der ehemalige Kanzlerberater Horst Teltschik und die Grüne Antje Vollmer. Sie kritisieren zum Beispiel die "für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau" und schreiben: "Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer."
Dem widersprechen eine Reihe von aktiven Politikern und Osteuropaexperten: Russland trete in der Ukraine eindeutig als Aggressor auf, die territoriale Integrität des Landes müsse über den Interessen Russlands stehen. "Wenn sich Moskau von der EU und/oder Nato bedroht fühlt, sollte es diesen Streit mit Brüssel austragen", schreiben sie weiter.
Auf einen interessanten Aspekt der Debatte macht Heribert Prantl in diesem Kommentar aufmerksam: Die Unterzeichner des ersten Appells gehörten einer Generation an, die den Kalten Krieg noch persönlich miterlebt und an dessen Überwindung mitgewirkt hat. Anders beurteile die jüngere Generation das Verhältnis zu Russland: "Diese Generation ist mit Gorbatschows Glasnost und Perestroika politisch sozialisiert worden, sie hat den Wert den Freiheits- und der Menschenrechte inhaliert - und sie ist vom Putin-Russland und der dortigen Regression bei den Freiheits- und Menschenrechten schrecklich enttäuscht."
Wie der Konflikt die Öffentlichkeit spaltet
Ja, der Krieg in der Ukraine spaltet Deutschland, spaltet auch die europäische Öffentlichkeit. Linke wie Rechte äußern Verständnis für Wladimir Putin. So zum Beispiel Teilnehmer von Demonstrationen, die sich "Montagsmahnwachen" nennen, Ende 2014 einen "Friedenswinter" ausrufen.
"Wer sind diese Menschen? Und warum lässt sie die Kritik an Russland so laut werden, warum treibt sie ausgerechnet die seltsame Putin-Show an?", fragte sich etwa FAS-Autorin Anna Prizkau und geht zu den Demonstrationen. "Diese Deutschen, die da sprechen, hassen Presse und Politik, Amerika und Israel, den Kapitalismus machen sie für alles verantwortlich und sind im Grunde einfach nur gegen die Demokratie. Dafür lieben sie Russland. Nicht, weil sie Gogol so gut, Bulgakow so klug und Tolstoi so brillant finden, sondern weil westliche Ideale für sie eine Bedrohung darstellen", schreibt sie hinterher.
Besonders interessant ist diese Einschätzung, da die Autorin Putin-Sympathisanten nicht nur auf der Straße trifft, sondern in der eigenen Familie. In einem weiteren Artikel dokumentiert die russischstämmige Prizkau einigermaßen ratlos ein Telefongespräch mit ihrer Mutter, die in Russland lebt: "'Du bist es doch, die von der Propaganda vernebelt ist; der westlichen, der amerikanischen!', brüllt sie aus der leisegeregelten Leitung. Ich: 'Putin ist ein größenwahnsinniger Narzisst, der Lügen verbreitet, und du glaubst ihm noch!'"