Debatte um Russland-Politik:Putins Angst

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Wladimir Putin im Kreml (Foto: AP)

In einem offenen Brief fordern 60 Unterzeichner mehr Verständnis für Russlands Ängste. Doch Präsident Putin fürchtet in Wahrheit nicht die Nato. Er fürchtet sein eigenes Volk.

Von Julian Hans

Um Ängste anderer ernst nehmen zu können, muss man sie kennen. In ihrem Aufruf für einen anderen Umgang mit Moskau fordern 60 Unterzeichner um die Grüne Antje Vollmer und den einstigen Sicherheitsberater Helmut Kohls, Horst Teltschik, mehr Verständnis für Russlands Ängste. Leider ist der Text ein Beleg dafür, dass sie die Ängste der Russen selbst überhaupt nicht verstehen.

"Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer", heißt es in dem Text. So weit, so banal. Doch es wird konkreter: Man müsse doch "die Furcht der Russen verstehen, seit Nato-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis" zu werden. Sachlich ist dieser Satz schlicht falsch, denn die Nato oder einzelne Mitglieder laden niemanden ein. Staaten können die Aufnahme beantragen. Das haben Georgien und die Ukraine 2007 getan. Auf dem Gipfel von Bukarest hat die Nato die Aufnahme abgelehnt. Heute würde sie es wieder tun.

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Aber Ängste sind ja oft irrational. Wie steht es also um die subjektive Furcht der Russen? Vor dem Gipfel von Bukarest 2008 führte das staatliche russische Meinungsforschungsinstitut WZIOM eine Umfrage durch: Was bedroht die Existenz unseres Staates?, wurden die Bürger gefragt. Einen Nato-Beitritt der Ukraine und Georgiens nannten drei Prozent. Eine militärische Bedrohung durch USA, Nato und den Westen insgesamt brachte es immerhin auf elf Prozent.

"Überfremdung" bereitet den Russen Sorge

Von allen Gefahren erschien den Menschen damals ein "Abfall des Lebensstandards bis zur Hungersnot" am realsten. 70 Prozent der Befragten hielten ein solches Szenario für möglich. Es war das Jahr, in dem die globale Finanzkrise begann. Weiter folgten Terrorismus (67 Prozent), Umweltkatastrophen (59 Prozent) und der Verfall von Wissenschaft und Kultur (59 Prozent). Ein "Krieg mit westlichen Ländern" erschien den Russen dagegen kaum realistischer (17 Prozent) als die Bedrohung durch Kometen (15 Prozent).

Aber heute muss das doch anders aussehen, angesichts der "unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung", die die Verfasser des Aufrufs ausgemacht haben. Ja: In der jüngsten Erhebung führt nicht mehr der wirtschaftliche Absturz die Angstliste der Russen an, sondern das, was Nationalisten "Überfremdung" nennen - dass etwa Chinesen die russische Bevölkerung verdrängen könnten. Terror bleibt an zweiter Stelle. Auf dem letzten Platz: ein Krieg mit dem Westen. 13 Prozent hielten das im August für eine realistische Gefahr. Deutlich größer war die Furcht vor einer Spaltung in der Machtelite und dem darauf folgenden verschärften Machtkampf (21 Prozent).

Das hat einen Grund: Die Geschichte von der Umzingelung Russlands und vom gefährlichen Heranrücken der Nato erzählt Wladimir Putin bevorzugt seinen westlichen Gesprächspartnern, zuletzt im Interview für das deutsche Fernsehen. Der Aufruf zeigt, dass diese Saat hierzulande auf fruchtbaren Boden fällt. Im eigenen Land erzählt die russische Propaganda nämlich eine ganz andere Geschichte: die von der mächtigen russischen Armee, die Amerika "in radioaktive Asche verwandeln" könnte.

Angst vor dem Westen also? Nein. Aber doch wachsende Feindschaft. Vor zehn Jahren nannten in einer Umfrage des unabhängigen Levada-Instituts 41 Prozent der Befragten das Verhältnis zu den USA "normal und entspannt", elf Prozent bezeichneten es als "freundschaftlich". Es war das Jahr der großen Nato-Osterweiterung, als die drei baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien aufgenommen wurden. Bis Januar 2014 blieben diese Werte zusammen stets über 35 Prozent. Mit Beginn der antiwestlichen Propaganda stürzten sie erst im März auf 16 Prozent. Im September hielten noch zwei Prozent der Russen die Beziehungen zu den USA für normal. Für die EU sieht die Kurve ähnlich aus.

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Gekränkter Stolz

Das Bedrohungsbild, das der Kreml im Inland verbreitet, ist kein militärisches, sondern eines von gekränktem Stolz. Die USA nutzten die Krise in der Ukraine, um das aufstrebende Russland kleinzuhalten, sagte Putin vorige Woche. 79 Prozent der Russen glauben laut einer Levada-Umfrage genau das. Mehr als jedem zweiten Russen ist es heute wichtiger, dass sein Land eine Großmacht ist, als in Wohlstand zu leben. Man hat keine Angst, man möchte anderen Angst machen können.

Wladimir Putin nutzt diese Gefühle, weil er selbst Angst hat: Die antiwestliche Rhetorik begann 2012, nachdem Hunderttausende Russen gegen gefälschte Wahlen protestiert hatten. Und sie wurde während des ukrainischen Maidan radikal verschärft. Putin fürchtet in Wahrheit weniger die Nato. Er fürchtet sein Volk.

© SZ vom 10.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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