Debatte um Parteiausschluss:SPD-Chef: Sarrazin ist ein "Hobby-Darwin"

Typisch sozialdemokratisch? Parteichef Gabriel begründet erstmals ausführlich das Ausschlussverfahren gegen Sarrazin. Im gleichen Medium antwortet Altkanzler Schmidt - ziemlich gelassen.

Lars Langenau

Das nennt man wohl gelebten Meinungspluralismus, was die Zeit da in der Causa Sarrazin in ihrer neuesten Ausgabe treibt.

Gabriel Sarrazin Schmidt

Sigmar Gabriel (li.) und Helmut Schmidt (re.) äußern sich in der "Zeit" über den früheren Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin.

(Foto: dpa)

Zum einen darf SPD-Chef Sigmar Gabriel in der Wochenzeitung auf einer ganzen Seite das Parteiausschlussverfahren gegen den scheidenden Bundesbanker rechtfertigen. Zum anderen kommt im Magazin ein ganz anderer sozialdemokratischer Großmeister daher: Zeit-Herausgeber Helmut Schmidt. Er tritt in der Nachfolgeserie von "Auf eine Zigarette" auf, sie heißt jetzt "Verstehen Sie das, Herr Schmidt?"

Während Parteichef Gabriel ziemlich aufbrausend nach dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" reagiert, ist Schmidt die Gelassenheit in Person. Der aktuelle Vorsitzende fährt ziemlich schwere Geschütze auf, das muss er wohl auch, um den Ausschluss Sarrazins aus seiner Partei zu rechtfertigen. Auch die Popularität von Sarrazins Thesen bei den eigenen Parteimitgliedern macht ihm Druck.

Altkanzler Schmidt hingegen findet den Gedanken, Sarrazin aus der Partei zu schmeißen "nicht in Ordnung", hält aber die "Vermischung von Vererbung - einem genetischen Vorgang - mit kulturellen Traditionen" für einen "Irrtum". Tatsächlich gebe es einen "erheblichen Teil" der Zugewanderten, die "leider gar nicht" integriert seien, aber: "Es ist nicht so sehr die Schuld dieser Migranten, wie man heute sagt. Die Hauptschuld liegt bei uns Deutschen."

Dann redet er mit seinem Gesprächspartner Giovanni di Lorenzo über Tabus und bekommt gerade noch haarscharf die Kurve beim Thema Israel.

Gabriel und Schmidt - zwei Generationen, zwei Flügel

Mit Gabriel und Schmidt treffen in der Zeit zwei Generationen - und im Grunde auch zwei Flügel der SPD - aufeinander. Helmut Schmidt war lediglich Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS (in den fünfziger Jahren, vor der Radikalisierung) und nur stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD. Trotzdem wurden in seiner Zeit, als er Kanzler und Willy Brandt Parteichef war, massenhaft Linke aus der SPD ausgeschlossen. Klaus Uwe Benneter ist nur ein Beispiel. Heute rechtfertigt Schmidt die Rückkehr des damaligen Juso-Chefs zur Partei in der Zeit tiefenentspannt so: "Er ist inzwischen erwachsen und vernünftig geworden. Damals war er das nicht."

Gabriel und die Abweichler

Gabriel wiederum hat es, wenn man in diesen Kategorien denken mag, mit rechten "Abweichlern" zu tun: Wolfgang Clement beispielsweise und es fehlt wohl auch nicht mehr viel, dann ist Ex-Innenminister Otto Schily dran, der sich kürzlich öffentlichkeitswirksam für die Verlängerung der Laufzeiten von Atommeilern ausgesprochen hat und immer mehr zum reinen Law-and-Order-Mann degeneriert ist.

Schmidt wiederum weist auch der SPD "mindestens 49 Prozent der Schuld am Zerwürfnis zwischen SPD und Clement" zu. Früher, sagt er generös, habe die SPD "alle möglichen Mitglieder der sozialdemokratischen Partei auch nicht als Erstes mit einem Ausschlussverfahren bedroht. Wir haben sie ertragen." Doch das ist, wie zuvor ausgeführt, eben nur die halbe Wahrheit.

"Welch ein hoffnungsloses Menschenbild"

Gabriel versucht den Rauswurf nun mit einer Begründung, die die Zeit in der Printausgabe noch mit "Anleitung zur Menschenzucht" getitelt hatte. Nach Leserprotesten wurde daraus in der Online-Ausgabe "Welch ein hoffnungsloses Menschenbild". Intellektuell durchaus hochwertig plädiert Gabriel da für eine "tabulose und offene Diskussion über die Misserfolge unserer Integrationspolitik". Da gebe es Missstände, schreibt er, aber deshalb gebe es auch keinen Grund, Sarrazin zu kritisieren.

Doch dann holt der SPD-Vorsitzende zu einem gewaltigen Rundumschlag aus: Sarrazins Buch sei "nicht mehr und nicht weniger als die Rechtfertigungsschrift für eine Politik, die zwischen (sozioökonomisch) wertvollem und weniger wertvollem Leben unterscheidet. Er greift dabei zurück auf bevölkerungspolitische Ideen und Theorien, die Grundlage für die schrecklichsten Verwirrungen politischer Bewegung wurden."

Gabriel erwähnt die in Schweden unter Sozialdemokraten durchgeführten Sterilisationen von 60.000 Personen und unterschlägt auch nicht, dass die Eugenik, also die "vom Staat getroffene Unterscheidung zwischen gewünschter und unerwünschter Fortpflanzung", in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts auch unter Sozialdemokraten populär war. Doch der Weg, schreibt Gabriel, führte direkt zu den Nationalsozialisten und ihrer Ideologie, die sich auf die damalig populären Wissenschaften berufen konnte, und zur "Auslöschung 'unwerten' Lebens" führte.

Gabriel fährt fort: "Thilo Sarrazin ist gewiss kein Rassist, aber obwohl er freimütig die Urheberschaft dieser Bevölkerungstheorien zitiert und für sich in Anspruch nimmt, ist ihm diese historische Einordnung keine Zeile wert." Anschließend fährt der SPD-Chef eine Breitseite gegen Bild und Spiegel, die mit ihren Vorveröffentlichungen Sarrazin erst die Öffentlichkeit ermöglicht hätten.

Dann nimmt er Sarrazins Thesen von vererbbarer Intelligenz ganz behutsam auseinander. Ironisch kommentiert Gabriel: "Einflussfaktoren wie Einkommensverhältnisse, Bildung, Sozialstatus, kulturelle Prägung, Integration oder Desintegration sind für ihn vernachlässigende Restgrößen. Der Erfolg oder Misserfolg einer Gesellschaft ist für Sarrazin deshalb vor allem davon anhängig, dass die 'richtigen' Menschen viele Kinder bekommen, um ihre Intelligenz zu vererben."

Gabriel nennt Sarrazins Thesen an anderer Stelle "absurden Unsinn" oder "zutiefst verstörend" und unterstellt ihm sarkastisch das Verlangen nach einer ständischen Gesellschaft. "Fehlt nur noch, dass Sarrazin das Dreiklassenwahlrecht als standesgemäße Förderung generativen Verhaltens wiederentdeckt."

"Keine Integrations-, sondern eine Selektionsdebatte"

An anderer Stelle weist er auf die Gefährlichkeit der Anwendung der Mendel'schen Gesetze auf die Menschen hin. "Nimmt man Sarrazin ernst", schreibt Gabriel, "ist es egal, ob sich die Eltern anstrengen, ihre Kinder zur Sprachförderung in den Kindergarten schicken oder die Hausaufgaben kontrollieren. Der Misserfolg ist ja bereits genetisch angelegt." Und er schlussfolgert: "Welch ein hoffnungsloses Menschenbild wird hier, mehr als 200 Jahre nach der europäischen Aufklärung, produziert?" Entsetzt schreibt Gabriel über die Forderung nach staatlichen Gebärprämien für junge Akademikerinnen: "Welch ein Wahnsinn! Spätestens jetzt ist klar: Thilo Sarrazin führt keine Integrations-, sondern eine Selektionsdebatte."

Gabriel zitiert den britischen Naturwissenschaftler Francis Galton aus dem 19. Jahrhundert, dem Vater der modernen Eugenik, der Sarrazin offenbar Pate gestanden hat bei seinem Buch - und ist entsetzt darüber, dass es im Deutschland des 21. Jahrhunderts möglich ist, "mit den eugenischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts stürmischen Beifall zu erzeugen". Wenn ihm etwas Sorge mache, schreibt der Parteichef, "dann nicht Sarrazins Buch, das ich für das absurde Ergebnis eines Hobby-Darwins halte. Viel mehr Sorge macht mir, dass dieser Rückgriff auf die Eugenik in unserem Land gar nicht mehr auffällt, ja mehr noch: als 'notwendiger Tabubruch' frenetisch gefeiert wird."

Der SPD-Chef fügt hinzu: "Der Hobby-Eugeniker Sarrazin und seine medialen Helfershelfer sind dabei, Theorien der staatlichen Genomauswahl wieder salon- und hoffähig zu machen. Andere und Schlimmere werden sich darauf berufen. Wer unter dem Banner der Meinungsfreiheit ('Das wird man doch wohl noch sagen dürfen ...') ethnische (und in der Causa Steinbach: historische) Ressentiments in der Politik wieder geschäftsfähig macht, der bereitet den Boden für die Hassprediger im eigenen Volk. Sie erhalten eine echte Chance, wenn Thilo Sarrazins Buch als intellektuelle Bereicherung gilt statt als das, was es wirklich ist: eine ungeheure intellektuelle Entgleisung."

Die Zeit kündigt an gleicher Stelle eine Entgegnung von Sarrazin auf Gabriel an.

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