Es ist der große Verdienst von Bergen und seinen Leuten exakt zu belegen, wie porös die Rechtfertigungen von Geheimdienst und Politik inzwischen sind. Und selbst wenn man es längst vermutet hat, ist es erschreckend so detailliert vorgeführt zu bekommen, wie selbstreferenziell das System der NSA funktioniert: Der Sinn der Überwachung ist die Überwachung. Eine Haltung, die die US-Politik seit dem 11. September zumindest teilweise beherrscht, begründet in dem Ur-Mythos der Anschläge auf das World Trade Center. Hartnäckig, schreibt Bergen, halte sich hier die Legende, dass die Attacken mit Überwachungsprogrammen wie Prism verhindert worden wären. Tatsächlich ist der Anschlag trotz vielfältiger Warnungen vor allem möglich gewesen, weil die Sicherheitsbehörden untereinander kaum Informationen ausgetauscht haben.
Aber die Legende lebt. Im Oktober vergangenen Jahres veröffentlichte der Sender Al Jazeera eine interne Liste von Argumentationsmustern, die die NSA nutzt, um ihre Arbeit zu rechtfertigen. Zentraler Punkt darin sind die Anschläge vom 11. September: "Ich erkläre Ihnen heute viel lieber diese Programme, als ein weiteres 9/11, dass wir nicht verhindern konnten", lautet einer der Textbausteine. Während der Anhörungen vor dem Geheimdienstausschuss im vergangenen Oktober verwendeten NSA-Chef Keith Alexander und US- Geheimdienstdirektor James Clapper diese und ähnliche Formulierungen mehr als ein Dutzend Mal. Immer mehr wirken die, die Komplotte aufdecken sollen, so, als spännen sie an ihrem eigenen Komplott.
Deutsche Regierung fahrlässig und hilflos
Unterstützt wurde die NSA auch durch die hilflose und mindestens fahrlässige Reaktion der letzten Regierung Merkel auf die Enthüllungen Edward Snowdens. Fragen des Datenschutzes und der Bürgerrechte wurden ebenfalls mit vermeintlichen Erfolgen der Überwachung runtergeredet. So brachte Barack Obama zu seinem Berlin-Besuch im vergangenen Juni die Zahl von mehr als 50 Bedrohungen durch radikale Islamisten mit, die die NSA habe abwenden können. Eine Zahl, die deutsche Regierungspolitiker eilfertig weiterverbreiteten. Ähnlich auch das Verhalten des Innenministers: Während seines Besuchs in Washington war Hans-Peter Friedrich gesagt worden, die NSA habe in Fällen geholfen Anschläge in Deutschland zu vereiteln. Zurück in Berlin, verbreitete er die vermeintliche Information auf einer Pressekonferenz, nur, um sie schon an nächsten Tag wieder zu relativieren. "Er ist der NSA einfach auf den Leim gegangen", sagt Co-Autor Maurer.
Wenn es um mehr Kompetenzen für die Sicherheitsbehörden geht, nehmen es aber auch deutsche Politiker nicht so genau mit der Wahrheit. Als Sigmar Gabriel seine Kehrtwende zum Befürworter der Vorratsdatenspeicherung begründen wollte, behauptete er, allein durch die Datenspeicherung habe man in Oslo den Amokläufer Anders Breivik schnell ermitteln können. Nur: In Norwegen gab es damals keine Vorratsdatenspeicherung. Man hofft, dass es Gabriel nur nicht besser gewusst hat.
Gestern großer Lauschangriff, heute Prism
Denn, so sagt es Hansjörg Geiger, ehemals Chef des Verfassungsschutzes und auch des BND, die Politik muss den Forderungen der Geheimdienste "eine Grenze setzen. Sicherheitsbehörden rufen ständig nach neuen intensiven Eingriffen." Der Drang der Polizei und der Geheimdienste sei dabei deutlich von den technischen Möglichkeiten getrieben. Und was heute Spähprogramme wie Prism sind, war einmal der große Lauschangriff. Damit war auch die so genannte Wohnraumüberwachung verbunden, weshalb die damalige Bundesjustizministerin ihr Amt aus Protest niederlegte. "Die Wohnraumüberwachung galt damals als das große Ding. Heute ist das vollständig eingeschlafen", sagt Geiger. "Ich habe das Gefühl, dass man sich da manchmal berauscht."
So war interessant zu sehen, wie das Bundeskriminalamt im vergangenen Juni einen Fahndungserfolg recht geschickt vermarktete. Nachdem er mehr als 750 Mal auf fahrende Lastwagen geschossen hatte, wurde nach fünf Jahren Ermittlungsarbeit ein 57-jähriger Mann gefasst. In mehreren Hintergrundgesprächen erläuterte das BKA der Presse anschließend offen wie selten, wie sie dem Täter auf die Spur gekommen sind. Die Fahnder hatten ein eigenes System aufgebaut, um Daten zu sammeln. Dazu gehörte eine Armada von Kameras, um an sieben Autobahnabschnitten jede Menge Kennzeichen zu erfassen. "Wir haben die Nadel im Heuhaufen gefunden", beschrieb BKA-Chef Jörg Ziercke den Coup. Dass das BKA den Heuhaufen überhaupt erst aufgehäuft hatte, darüber wurde dann kaum noch gesprochen.