Süddeutsche Zeitung

Debatte um Niedriglöhne:Das Mindeste

Hunderttausende arbeiten Vollzeit, brauchen aber trotzdem Hartz IV: Die Debatte um den Mindestlohn speist sich aus dem Gefühl, dass so etwas nicht sozial sein kann. Tatsächlich?

Ein Kommentar von Detlef Esslinger

Immer noch prägt der Bundestagswahlkampf 2002 das Land, auch wenn er schon eine Ewigkeit her ist. Es gab damals in Deutschland mehr als vier Millionen Arbeitslose, und die Union zog einen Slogan auf, dem scheinbar nichts entgegenzusetzen war: "Sozial ist, was Arbeit schafft". Ein Satz aus fünf kurzen Wörtern, leicht zu merken und auch in der Sache überaus eingängig. CDU und CSU verloren damals zwar die Wahl. Aber ihr Slogan macht seitdem Politik: Es war die ihm innewohnende Logik, die den Hartz-Reformen von Rot-Grün zugrunde lag. Und er ist letztlich die Begründung, warum es in Deutschland nach wie vor keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt.

Sozial sind sie demnach alle: der Metallverarbeiter, der auch Ungelernten einen Tariflohn von 2000 Euro zahlt; der Friseur, dessen ausgebildete Angestellte gerade mal die Hälfte davon bekommen, und auch der Amazon-Chef, in dessen Lager bei Augsburg 20 Nachtschichten nacheinander abzuleisten sind. Hauptsache, Arbeit. Wirklich?

Politik muss Prioritäten setzen, und die Folge ist, dass in der Regel die dringenden Dinge vor den grundsätzlichen erledigt werden. Vor zehn Jahren war es dringend, auch solche Menschen wieder in Arbeit zu bringen, die eigentlich schon als verloren galten. Also wurde am Arbeitsmarkt gehobelt. Die Späne sieht man danach.

Es kommt auch drauf an, wie es in den Betrieben zugeht

Die Zahl der Arbeitslosen ist zum einen gesunken, um eine Million, gemessen an 2002; sogar um zwei Millionen, gemessen an 2005. Zum anderen ist die Zahl der Menschen gestiegen, die sich alles bieten lassen müssen. Hunderttausende arbeiten Vollzeit, brauchen aber trotzdem Hartz IV. Sechs Millionen Beschäftigte beziehen lediglich Niedriglöhne (die als Stundenlöhne unter 10,36 Euro definiert sind). Wer diesen Bedingungen nicht entkommt, wird auch im Alter auf Hilfe der Allgemeinheit angewiesen sein.

"Sozial ist, was Arbeit schafft" - an dem Satz ist etwas dran, aber er ist nicht vollständig. Eine Gesellschaft bemisst sich nicht nur danach, wie viele Menschen sie in Arbeit bringt. Es kommt immer auch drauf an, wie es in den Betrieben zugeht. Wer in der Metall- und Elektroindustrie arbeitet, der hat wenig Anlass zur Klage. Das ist die Branche, die mit all ihren Weltmarktführern die Lokomotive des Landes ist.

Die IG Metall wird an diesem Montag ihre Forderung für die Tarifrunde justieren. Dabei geht sie nach Gefühl vor: Die 5,5 Prozent, die sie wohl verlangt, sind teilweise nach dem Prinzip Pi mal Daumen ermittelt; das geben die Gewerkschafter sogar zu. Dies ist weniger sensationell, als es sich anhört. Auch die Mindestlohndebatte ist ja keine, die auf der Basis exakter ökonometrischer Daten geführt würde. Ginge auch gar nicht.

Niemand weiß in Wahrheit, wozu denn ein gesetzlicher Mindestlohn führen würde, käme er eines Tages so, wie ihn die neue rot-grüne Mehrheit im Bundesrat am Freitag beschlossen hat. Kann sein, dass im Friseurgewerbe die Schwarzarbeit weiter zunehmen würde - es kann aber auch sein, dass vielen Friseurinnen bei einigermaßen auskömmlicher Bezahlung Freizeit wichtiger ist, als der Nachbarin noch heimlich die Haare zu toupieren.

Die Debatte über den Mindestlohn speist sich nicht aus ökonomischen Gewissheiten, sondern letztlich aus einem Gefühl: dass es auf Dauer nicht sozial sein kann, wenn Hunderttausende selbst von einem Vollzeitjob nicht leben können.

Arbeitsbedingungen sind immer auch ein Spiegel der Zeit. Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet im Jahr 2002 nicht nur der Unions-Spruch erfunden wurde, sondern auch der Werbeslogan "Geiz ist geil"? Eine Zeit, in der ein Laster zur Tugend erhoben wird, ist eher nicht die Zeit, in der die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen der Benachteiligten zum Gegenstand größerer Debatten werden.

Staat und Gesellschaft versprechen nur, für das Mindeste zu sorgen

Solange aber Erbarmungslosigkeit nicht den common sense ausmacht, besteht immer auch die Chance, dass der Zeitgeist wieder andere Prioritäten setzt. Derzeit müssen sich Kunden ja ein bisschen vor dem Postmann schämen, wenn der mit dem Amazon-Päckchen klingelt. Ein Lebensgefühl auf Dauer ist das wohl nicht.

Rot-Grün und die Gewerkschaften streben einen Mindestlohn von 8,50 Euro an; in Wahrheit ist das eine Botschaft an zwei Adressaten: Erstens an die ewig Neoliberalen, die meinen, Machtwirtschaft sei die perfekte Marktwirtschaft. Zweitens aber auch an die potenziellen Bezieher des Mindestlohns, an all die vielen Menschen darunter, die heute zu spüren bekommen, was es heißt, früher nie einen Schul- oder Berufsabschluss geschafft zu haben.

Mit 8,50 Euro würde ja niemand reich, im Gegenteil, der Betrag ist ein Niedriglohn. Staat und Gesellschaft versprechen damit nur, für das Mindeste zu sorgen. Wer mehr will, ist dafür selber zuständig.

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SZ vom 04.03.2013/sana/lala
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