Debatte um Großbritanniens EU-Austritt:Zeit für ein Europa mit England

Für London waren die Vereinigten Staaten immer wichtiger als die Europäische Union - das führte zu vielen Konflikten. Nun ist die Zeit gekommen, Großbritannien und Europa zu versöhnen. Vorteile hätte das für beide.

Ein Gastbeitrag von Egon Bahr

Nachdem nun Schottland doch Teil Großbritanniens bleibt, versucht Premierminister David Cameron zu verhindern, dass aus diesem Erfolg ein Pyrrhussieg wird. Er hat deshalb ein Referendum für 2017 über die Frage angekündigt, ob England Mitglied der EU bleiben soll. Nun muss er erleben, dass die rechte Ukip, ein innenpolitisch unberechenbarer Gegner, radikal für den Austritt wirbt. Die Labour Party wiederum läuft Cameron und der Ukip hinterher.

Großbritannien und die europäische Bewegung - das ist eine lange Geschichte. Bestimmend für die Politik dort waren immer die Special Relations zwischen London und Washington. Winston Churchill hatte, praktisch und genial, nach dem Krieg die führende Weltmachtrolle den USA übertragen und doch den Anspruch des eigenen Landes aufrecht erhalten, auf gleicher Augenhöhe zu agieren. Ob die Konservativen herrschten oder Labour regierte, ob Margaret Thatcher an der Macht war oder Toni Blair, alle verfolgten diese Linie, zuweilen elegant, zuweilen brutal, jedenfalls bewundernswert erfolgreich - um die europäische Integration zu behindern und zu bremsen.

Wenn dies zu misslingen drohte, sprangen sie auf den fahrenden Zug. Sie schickten sogar einen Kommissar nach Brüssel, der die britischen Interessen weiter verfolgte, bis London in aller Form festschrieb, dass es sich in allen außen- und sicherheitspolitischen Fragen nicht durch Beschlüsse der EWG, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, gebunden fühle. Das war und ist der Kern des britischen transatlantischen Interesses.

Brandt fand, England gehöre mit zu Europa

Willy Brandt war 1969 stolz, in seiner ersten außenpolitischen Aktion in Den Haag zusammen mit dem französischen Präsidenten Georges Pompidou grünes Licht für den Beitritt Englands zum Europa der sechs Gründerstaaten vereinbart zu haben. Anders als de Gaulle, für den England nicht zu Europa gehörte, fand Brandt, das Mutterland der Demokratie und auch die skandinavischen Staaten seien natürliche Mitglieder der Familie; er fühlte sich durch die Entwicklung später enttäuscht.

Erst Anfang der 1980er-Jahre las ich die Erinnerungen von George Kennan, dem Leiter des amerikanischen Planungsstabes. Der war schon 1949 zu dem Ergebnis gekommen, dass alle Vorstellungen von einer europäischen Gemeinschaft scheitern würden, die England unwiderruflich an den Kontinent binden wollten; die Sonderbeziehungen zu den USA würden immer Priorität behalten. Als ich Brandt davon berichtete, sage er, das hätte ich ihm früher sagen müssen. Und fügte hinzu: "De Gaulle hatte doch recht".

Zeit für einen Wandel

Nun aber könnte die Zeit reif sein zu einem Wandel durch Selbstbesinnung. Die Zeit könnte gekommen sein, das Interesse Englands an seinen Sonderbeziehungen zu den USA mit dem Interesse Europas zu versöhnen, ein handlungsfähiger Pol in der multipolaren Welt zu werden. Dazu wäre zu vereinbaren: Erstens wird der für alle Beteiligten nützliche gemeinsame Markt fortgesetzt, sogar vertieft - zusammen mit den Stärken, die sich der Finanzplatz London erworben hat. Zweitens aber wird Großbritannien künftig von seinen opting out-Vorbehalten keinen Gebrauch mehr machen.

Das würde bedeuten: England würde in außen- und sicherheitspolitischen Fragen wie bisher seine volle Handlungsfähigkeit behalten, einschließlich der engen Abstimmung der britischen und US-amerikanischen Geheimdienste. Washington müsste keine Sorge haben, die Euro-Länder könnten antiamerikanischen Neigungen folgen. Amerika bleibt für Europa unentbehrlich und Russland der geografisch eben unverrückbare große Nachbar.

Die europäische Idee hat an Glanz verloren

Die osteuropäischen Nato-Staaten sollten sich erinnern, dass die Nato Amerika ist, das "nur" im multilateralen Gewand auftritt. Wir haben in Berlin (West) immer gewusst, dass nicht die Truppenverbände der drei Westmächte, sondern Amerika unsere Sicherheit garantiert. Im Falle eines Angriffs auf die Stadt wäre Amerika im Krieg gewesen. Krieg wollten die beiden Großen damals nicht und wollen ihn heute nicht. Beide brauchen sich, nicht nur in Asien, sondern auch im unausweichlichen Kampf gegen den terroristischen Islam mit seinen globalen Kalifatsansprüchen.

Es kann kaum bestritten werden, dass die europäische Idee an Glanz verloren hat. Sie wurde reduziert auf Verwaltungsprobleme, Bankenrettungen, unterschiedliche Stabilitätsfragen im nationalen und Euroraum, mit Abkürzungen, die man nicht verstehen kann und auch nicht verstehen soll. Der Bevölkerung ist Europa gleichgültig oder zu einer abschreckenden Sache geworden, um die sich die Experten kümmern sollen.

Der sowjetische Außenminister Gromyko hat im Februar 1970 besorgt gefragt, wann damit zu rechnen sei, dass Europa mit einer Stimme spricht. Meine Antwort, Wiedervorlage in 20 Jahren, ließ ihn zweifelnd den Kopf schütteln. Brandt wiederum nannte mich einen Defätisten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es so lange dauert. Und er konnte sich noch viel weniger vorstellen, dass die deutsche Einheit schneller kommen würde.

Die Welt wartet nicht, bis Europa tut, was es so lange schon beschlossen hat. Europas Gewicht nimmt ab, was Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und die Vorbildfunktion seiner immer noch attraktiven sozialen und gesellschaftlichen Netze angeht. Es sollte die Frist nutzen, um Pol in einer multipolaren Welt zu werden. Mit der Befreiung von den englischen Vorbehalten würde Euroland an Faszination gewinnen. Selbst für Länder wie Norwegen oder Schweden, die sich nicht sofort der gewonnenen Handlungsfähigkeit anschließen, könnte das interessant werden. Euroland bleibt garantiert durch die beiden für uns immer noch Großen mit ihrer atomaren Zweitschlagfähigkeit, die keinen Krieg gegeneinander führen wollen.

England muss nicht mehr drohen, Europa den Rücken zuzukehren. Wir können gemeinsam das begeisternde Ziel verfolgen, geachteter und beachteter Teil der globalen Welt zu werden.

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