Süddeutsche Zeitung

Debatte um Beschneidung:Keine Kompromisse bei der Religionsfreiheit

Das Beschneidungsurteil des Landgerichts Köln lässt Zweifel daran aufkommen, wie ernst Deutschland das Recht auf Religionsausübung nimmt. Man darf den Spruch der Richter nicht als Auslegungssache bagatellisieren - denn er zeugt von großer kultureller und historischer Ignoranz.

Egemen Bagis

Die Religionsfreiheit ist durch eine Reihe von Gesetzen und internationalen Konventionen fest verankert. Auch in Deutschland garantiert das Grundgesetz im Artikel 4 dieses Recht. Das dachte man zumindest. Die Türkei beobachtet mit Verwunderung, dass die ungestörte Religionsausübung in Deutschland nicht mehr vorbehaltlos gewährleistet ist. Seit das Kölner Landgericht im Juni die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen zur strafbaren, rechtswidrigen Körperverletzung erklärt hat, kommen Zweifel an der Aufrichtigkeit der Religionsfreiheit in der gelebten Praxis auf.

Man darf das Urteil der Richter nicht als Auslegungssache bagatellisieren. Vielmehr ist mit dem Urteil die Verbundenheit der Bundesrepublik mit dem international anerkannten Grund- und Menschenrecht der Religionsfreiheit infrage gestellt worden. Dass ein deutsches Gericht die Beschneidung als Körperverletzung erklärt und die Beschneidung als Straftat ansieht, muss als offener Angriff auf die Religionsfreiheit der muslimischen und jüdischen Gemeinden gewertet werden. Sie ist letztlich eine Frage des Glaubens, deren Grenzen nicht willkürlich von Gerichten bestimmt werden dürfen.

Das Urteil steht in gravierendem Widerspruch zum gesetzlich geschützten Recht auf freie Religionsausübung. Es zeugt von großer kultureller und historischer Ignoranz. Das Ritual ist fester Bestandteil der islamischen und jüdischen Tradition. Für religiöse Muslime und Juden ist es unverhandelbar. Nicht umsonst sprechen Rabbiner vom "schwersten Eingriff in jüdisches Leben nach dem Holocaust".

Am Tag der Urteilssprechung befand ich mich zu Gesprächen in Berlin, unter anderem auch mit meinem guten Freund, Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Ich habe ihm gegenüber meine Missbilligung des Kölner Urteils ausgesprochen. Er versicherte mir, dass unsere Empfindlichkeiten geteilt seien und das Thema entsprechend sensibel behandelt werden würde. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat davor gewarnt, dass Deutschland sich mit einem Beschneidungsverbot zur "Komiker-Nation" machen würde. Sie wolle nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt sei, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Die Bundeskanzlerin hat recht.

Absurde Rechtsprechung durch anmaßende Richter

Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass die Kanzlerin auch die vier Millionen muslimischen Mitbürger in ihre Bedenken mit einbezogen hätte. Schließlich gehört die Beschneidung zur offenen Ausübung der islamischen Religion. Gerade mit Blick auf die wachsende Islamophobie auf dem europäischen Kontinent wäre eine solche Solidaritätsbekundung mit den in Deutschland lebenden Muslimen ein wichtiges Zeichen gewesen. Ich hinterfrage auch die religiöse Objektivität der Richter, die die Beschneidung als Körperverletzung werteten. Wenn es deren Absicht war, das Recht von Kindern auf körperliche Unversehrtheit und deren individuelle Religionsfreiheit zu schützen, hätte das Gericht konsequenterweise auch den christlichen Ritus der Taufe in ihre Rechtsprechung mit einbeziehen müssen.

Das Kölner Urteil ist bedauerlicherweise ein weiteres Indiz dafür, wie schwer sich viele europäische Länder mit der zunehmenden kulturellen und religiösen Vielfalt in ihrer Gesellschaft tun. Europa täte gut daran, die Vielseitigkeit als Bereicherung, nicht als Bedrohung zu sehen. Ein solches Gerichtsurteil stärkt nur die wachsenden islamfeindlichen und antisemitischen Kräfte auf dem europäischen Kontinent. Eine absurde Rechtsprechung durch anmaßende Richter, die willkürlich die Religionsfreiheit begrenzen, darf nicht als Vorwand für und als Ermutigung zu gesellschaftlicher Intoleranz missbraucht werden. Ich plädiere daher für mehr Sensibilität seitens der Verantwortlichen bei kulturellen und religiösen Fragen.

Deutschlands Schlüsselrolle in der Schuldenkrise ist weltweit anerkannt und angesehen. Allerdings darf diese Vorbildrolle nicht nur auf finanzielle Krisen beschränkt sein, sondern muss sich auch auf dem Gebiet kultureller und religiöser Toleranz zeigen. Auch und gerade wegen ihrer Geschichte sollte die Bundesrepublik hier mit gutem Beispiel vorangehen. Das Kölner Urteil ist dabei nicht hilfreich. Goethe, Deutschlands größter Dichter, sagte einst: "Weil du die Augen offen hast, glaubst du, du siehst." Auch der anatolische Philosoph und Mystiker Dschalal ad-Din Rumi, besser bekannt als Mevlana, befand im 13. Jahrhundert: "Lege deine zwei Fingerspitze auf deine Augen. Kannst du etwas von der Welt sehen? Obwohl du sie nicht sehen kannst, existiert die Welt trotzdem."

Diese großen Namen unserer Zivilisationen haben bereits vor Jahrhunderten angemahnt, Probleme anzugehen statt sie zu ignorieren. In Zeiten, in denen islamfeindliche Tendenzen und Diskriminierung von Muslimen bedauerlicherweise zum europäischen Alltag gehören, sollten wir uns ihrer weisen Worte erinnern. Die Türkei und Deutschland sind fest entschlossen, diesem besorgniserregenden Trend gemeinsam entgegenzuwirken. Die Existenz der muslimischen Bevölkerung in Deutschland bietet eine große Chance. Dass ranghohe deutsche Regierungsvertreter die Muslime als Teil Deutschlands bezeichnet haben, ist in diesem Zusammenhang lobend zu erwähnen. Selbstverständlich gibt es noch gewisse Integrationsprobleme und Hürden, die gemeinsam im Dialog gelöst werden müssen. Das Kölner Landgericht hat die Integrationsbemühungen der deutschen Regierung jedoch unnötig erschwert.

Wie in jedem Rechtsstaat muss es selbstverständlicherweise auch in Deutschland bestimmte Regeln und Gesetze geben, um die notwendige Gesellschaftsordnung zu wahren. Bei der Religionsfreiheit darf es allerdings keine durch Gerichte vorgegebenen Beschränkungen und Kompromisse geben.

Das Urteil ist aus meiner Sicht ein Zeichen, dass die Ergebnisse der Deutschen Islam Konferenz (DIK), die erstmalig unter dem Vorsitz des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble stattfand, wieder Beachtung finden sollten. Deutschland und Minister Schäuble hatten mit der DIK ein unmissverständliches Signal an alle europäischen Länder gesendet: Der Islam und die Muslime sind mittlerweile fester und wichtiger Bestandteil Europas. Es wäre bedauerlich, wenn die damalige Botschaft in Vergessenheit geriete.

Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten setzt Respekt und Verständnis voraus. Das Kölner Urteil, welches eine große Unkenntnis gegenüber dem Islam und seinen Riten offenbart hat, lässt diese Attribute schmerzhaft vermissen. Hoffentlich findet dieser Fehler keinen Platz in der permanenten deutschen Rechtsprechung.

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SZ vom 28.08.2012/mkoh
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