Deals vor Gericht:Einstellung gegen Millionen

1300 Euro für das Randalieren unter Alkoholeinfluss, 15 000 Euro bei Sterbehilfe: Immer häufiger kürzt die Justiz aufwendige Prozesse ab - gegen Zahlung von Geldauflagen. Der Paragraf der Strafprozessordnung soll helfen, in Ausnahmefällen das Recht menschlich zu gestalten. Aber wer bekommt das Geld?

Von Wolfgang Janisch

Der Mann ist glimpflich davongekommen. Drei Maß Bier hatte er getrunken, es war Marktsonntag in Puchheim bei München. "Ich wusste nicht, was der Alkohol mit mir macht", sagte er hinterher. Der Alkohol hatte ihn zum Berserker gemacht: Einem Markthändler schlug er ins Gesicht, dann sprang er auf die Motorhaube eines Autos und hämmerte darauf ein. Der Fall landete vor dem Richter - und der stellte das Verfahren gegen den zuvor unbescholtenen 24-Jährigen ein. Schadensersatz und Schmerzensgeld musste er zahlen, dazu 1300 Euro an ein Verkehrsprojekt.

Als der Gesetzgeber im Jahr 1974 den Paragrafen 153a in die Strafprozessordnung schrieb, hat er an Fälle wie diesen gedacht. An Alltagskriminalität, die den Gerichten Arbeit bereitet, an Urteile, auf die der Rechtsstaat verzichten kann, ohne dass dadurch sein, wie man sagt, "Strafanspruch" unterhöhlt würde. 153a - unter dieser Hausnummer konnte der Staat den Täter die Folgen seines Tuns spüren lassen, ohne ihn gleich zum Kriminellen zu stempeln.

Eine Vorschrift, die nicht nur für Ladendiebe taugt, sondern auch dafür, das Recht menschlich zu gestalten. Kürzlich stellte das Landgericht Ulm einen Sterbehilfeprozess ein. Ein Mann, der schwer lungenkrank an der Beatmungsmaschine hing, war an einer Überdosis Schmerzmittel gestorben; Ehefrau und Sohn hatten auf sein Verlangen hin den Tropf aufgedreht. Nun zahlen beide je 15 000 Euro an ein Hospiz - und kommen ohne Urteil davon.

Längst aber hat der Paragraf ein zweites, ein ganz anderes Gesicht. In Wirtschaftsstrafverfahren dient er immer wieder dazu, komplizierte und langwierige Verfahren abzukürzen - und nebenbei beträchtliche Summen einzuspielen, sei es für die Staatskasse, sei es für gemeinnützige Einrichtungen. Die Causa Ecclestone ist da, jedenfalls finanziell gesehen, nur der vorläufige Höhepunkt einer langen Entwicklung.

Im Frühjahr kamen sieben Vorstände der Landesbank Baden-Württemberg mit Geldauflagen von 40 000 und 50 000 Euro davon. Im Mai wurde der Prozess gegen Ex-Siemens-Vorstand Thomas Ganswindt gegen Zahlung von 175 000 Euro beendet. Josef Ackermann zahlte 2006 immerhin 3,2 Millionen Euro, Rolf-Ernst Breuer vor drei Jahren 350 000 Euro - ihre Strafprozesse wurden dafür eingestellt, eine Vorstrafe blieb ihnen durch das Procedere erspart. "Es als eine Art Freikauf vom Verfolgungsrisiko anzusehen, geht zu weit", schreibt der frühere BGH-Richter Lutz Meyer-Goßner in seinem Fachkommentar - und fügt hinzu: "auch wenn es dazu leider in der Praxis nicht selten missbraucht wird".

Den Aufwand der langwierigen Wahrheitsfindung ersparen

Einstellung gegen Geldauflage: Die Vorschrift ist Teil eines umfassenden und im Laufe der Jahrzehnte immer größer gewordenen Regelwerks, das die Möglichkeiten der Justiz erweitert hat, Strafverfahren nicht bis zum Urteil weiterzubetreiben, sondern schon davor zu beenden. Die seit Jahrzehnten steigenden Zahlen sind das Spiegelbild einer wachsenden Belastung der Justiz, die sich damit den Aufwand der langwierigen Wahrheitsfindung erspart, in passenden, aber auch in unpassenden Fällen: Paragraf 153a könne "auch zu einer Privilegierung finanziell besser gestellter Täter benutzt werden, insbesondere bei zweifelhafter Sach- und Rechtslage", heißt es in einem Aufsatz des Konstanzer Kriminologen Wolfgang Heinz.

Eine Statistik aus dem Gebiet der alten Bundesrepublik verdeutlicht die Dimensionen: Im Jahr 1981 zählte man 427 000 Einstellungen durch Gerichte und Staatsanwaltschaften, sei es mit, sei es ohne Auflagen; 2008 lag die Zahl bei mehr als einer Million. Gegen Geldauflagen wurden nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes im Jahr 2012 gut 210 000 Verfahren eingestellt.

Bleibt die Frage, wer das Geld bekommt. Denn jedes Jahr kommen auf diese Weise viele Millionen zusammen, auch wenn Ecclestones 100-Millionen-Dollar-Deal eine seltene Ausnahme ist. Baden-Württemberg beispielsweise erlöste fast 16 Millionen Euro (davon flossen etwa 2,8 in die Staatskasse), im Saarland war es eine Million, in Thüringen waren es fast zwei.

In den meisten Ländern geht der größere Teil des Geldes in gemeinnützige Einrichtungen. Normalerweise existiert eine umfangreiche Liste, und typischerweise profitieren diejenigen Einrichtungen am stärksten, deren Ziele nahe am Wirken der Justiz liegen. In Berlin etwa flossen 2012 rund 26 000 Euro in die Opferhilfe, in Rheinland-Pfalz profitierten die Bewährungshilfe Koblenz sowie die Opfer- und Täterhilfe Rheinhessen vergangenes Jahr mit zusammen etwa 1,1 Millionen Euro.

Fast überall gilt: Wohin das Geld geht, darüber entscheiden Richter und Staatsanwälte. Das räumt den Entscheidern einen beträchtlichen Spielraum ein, die Gaben nach eigenem Gutdünken zu verteilen. In Hamburg hat man sich daher schon 1972 für ein Sammelfondsverfahren entschieden. Die Richter und Staatsanwälte nennen lediglich einen abstrakten Förderungszweck; über die Feinverteilung entscheidet ein Gremium der Justizverwaltung. Wichtig: Die Beschenkten müssen binnen neun Monaten einen Nachweis über die bestimmungsgemäße Verwendung der Gelder vorlegen.

Im Fall Ecclestone hat sich das Gericht eine Diskussion darüber erspart, wem der Geldsegen gebührt: Er fließt zu 99 Prozent in die Staatskasse.

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