Süddeutsche Zeitung

Innenminister de Maizière in der Flüchtlingskrise:Anführer gesucht

Der menschenwürdige Umgang mit Flüchtlingen ist eine nationale Aufgabe, die von oben zu steuern ist. Wo also ist Bundesinnenminister de Maizière?

Kommentar von Bernd Kastner

Der Schwarm gilt als kluges Wesen, man attestiert ihm gerne wundersame Intelligenz. Zu bestaunen ist diese Schwarmintelligenz gerade in München, wo unzählige Freiwillige erfolgreich tun, was Aufgabe des Staates wäre: die neu angekommenen Flüchtlinge am Hauptbahnhof mit dem Nötigsten zu versorgen, mit Wasser und Bananen - und vor allem mit einem Willkommenslächeln. "Wir schaffen das!", hat Kanzlerin Merkel gesagt, und ja, die Ehrenamtlichen haben es geschafft. Sie zaubern, ganz nebenbei, Deutschland ein sympathisches Gesicht - trotz allem.

Denn jene, die für die gigantische Aufgabe der Flüchtlingsversorgung verantwortlich sind, haben nicht nur die Helfer vom Münchner Bahnhof ziemlich alleingelassen, sondern auch die lokalen und regionalen Behörden. Diese arbeiten sehr gut zusammen, egal, ob sie politisch rot oder schwarz geprägt sind. Das Gegenteil von intelligent aber ist, dass noch immer das bayerische Sozialministerium die bundesweite Verteilung der Zehntausenden steuern muss.

Seehofer freut sich womöglich zu früh

Eine Behörde, die mit dem Versorgen der in München Gestrandeten schon genug zu tun hätte, muss andere Bundesländer beknien: Bitte nehmt uns Asylsuchende ab! Dass die nationale Solidarität nur mangelhaft funktioniert, hat Münchens SPD-Oberbürgermeister Dieter Reiter zu Recht scharf kritisiert. Zuständig für die Koordination wäre Berlin, das Bundesinnenministerium unter Thomas de Maizière (CDU). Der menschenwürdige Umgang mit den Hunderttausenden Flüchtlingen ist eine nationale Aufgabe, die von oben zu steuern ist. In Berlin aber schaffen sie das bisher nicht.

Dass Merkel vor gut einer Woche die Grenzen geöffnet hat, war aus humanitären Gründen richtig. Dass die Bundesregierung jetzt, genauso plötzlich, wieder Grenzkontrollen eingeführt hat, ist gut gemeint, um einen vollständigen Kollaps der Asylverwaltung zu vermeiden. Und wenn nun, nach Tagen des Zorns, Horst Seehofer diese Kehrtwende genüsslich als seinen Erfolg verkauft, wundert das nicht. Bayerns Ministerpräsident hat die Kanzlerin zum Handeln gedrängt. Womöglich aber freut er sich zu früh.

"Deutschland macht dicht, Deutschland schließt die Grenze zu Österreich": So lautet nun die deutsche und bayerische Botschaft in die Welt, vor allem in die Camps der Verzweifelten rund um Syrien: Macht euch erst gar nicht auf den Weg!

Deutschland aber ist mitnichten dicht. Ja, es wird kontrolliert, es bilden sich lange Staus an den Grenzen, aber geschlossen sind sie nicht. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hat das am Sonntagabend erwähnt, ganz beiläufig bloß, es passt ja auch nicht in die Botschaft der Abschreckung. Tatsächlich wird, wer in Freilassing oder Passau einem Polizisten erklärt, dass er um Asyl bittet, weiter eingelassen, egal, ob er aus Syrien oder Albanien stammt. Er muss eingelassen werden, das verlangt die Humanität, das verlangt geltendes Recht. Und das wird sich herumsprechen in der vernetzten Community der Fliehenden.

Gewiss, die neuen Kontrollen schaffen eine Atempause, gerade in München, sie sind auch ein Druckmittel auf europäischer Ebene, um andere Staaten zu mehr Solidarität zu zwingen. Sie werden aber kaum die Zahl der Asylsuchenden mittel- und langfristig merklich senken. Wer es bis auf eine griechische Insel geschafft hat, wird sich weiter durchkämpfen und an der deutschen Grenze anklopfen.

Thomas de Maizière wirkt planlos und überfordert

Weil die Regierenden wieder Ordnung in den Zug der Flüchtlinge bringen wollen, muss die Bundespolizei an der Grenze die Ankommenden registrieren und sie, wie bis vor Kurzem üblich, weiterleiten in bayerische Erstaufnahmeeinrichtungen, wo die nächste Behörde registriert, ehe das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nochmals Daten erhebt.

Das Problem aber ist, dass die Bundespolizei schon vor Monaten mit einigen Hundert Flüchtlingen überfordert war, inzwischen kommen Tausende pro Tag an. Schaffen die Beamten das? In den kleinen Grenzorten gibt es keinen so tatkräftigen Schwarm von Ehrenamtlichen wie in der Millionenstadt München, der Polizei und Behörden unterstützen könnte. Das Chaos könnte also noch größer werden.

Die Intelligenz der Menge fällt nicht vom Himmel. Unter den Münchner Freiwilligen gibt es ein paar, die, öffentlich kaum wahrnehmbar, das Ganze organisieren. Dem Schwarm der Hauptamtlichen aus Bürgermeistern und Ministern, Polizisten und Soldaten, Verwaltern und Entscheidern, Johannitern und Maltesern fehlt ein kluger Kopf. Es könnte die Stunde des Bundesinnenministers sein, doch Thomas de Maizière wirkt planlos und überfordert. Schlechte Voraussetzungen für intelligentes Schwarmmanagement.

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SZ vom 15.09.2015/fued
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