Süddeutsche Zeitung

Deutsche Einheit:Unrecht bleibt Unrecht

Ausgerechnet zum 30. Jahrestag der ersten Massenproteste wird erneut darüber gestritten, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Es ist höchste Zeit, dass sich die Menschen im Osten ihrer Vergangenheit stellen.

Kommentar von Cerstin Gammelin, Berlin

Wie schön er ist, der verklärte Blick auf Vergangenes. Und wie gefährlich. Es lässt sich heute so leicht über die ersten großen Protestdemos in der DDR reden. Vor 30 Jahren aber setzte, wer daran teilnahm, womöglich sein Leben aufs Spiel. Man muss daran erinnern, weil nur so klar wird, wie übermächtig der Drang nach Freiheit damals war. Am 9. Oktober wagten sich so viele Menschen wie niemals zuvor in der DDR auf die Straße, um für eine andere Politik zu demonstrieren. Und gegen die Willkür des Staates. Umso erstaunlicher ist es, dass zum Jahrestag der ersten Massendemonstration erneut darüber gestritten wird, ob die DDR ein Unrechtsstaat war - oder nicht. Wie bitte?

Die Frage führt direkt zu den Hunderttausenden, die damals alles riskiert haben. Ihnen drohte nicht nur Gefahr von prügelnden oder sogar schussbereiten Polizisten und Stasi-Truppen. Sondern auch, wegen angeblichen Rowdytums, staatsfeindlicher Hetze oder der Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit verhaftet und für lange Zeit verurteilt zu werden. Straftatbestände dienten in der DDR als Freibriefe für willkürliche Festnahmen. Es gibt nichts daran zu zweifeln, dass genau diese Umstände den Begriff Unrechtsstaat rechtfertigen.

Keine nachträgliche Veränderung des Begriffs "Unrechtsstaat"

Und damit nicht genug. Die DDR, genauer gesagt die Spitze der SED, hatte sich staatliche Strukturen geschaffen, die Willkür und Rechtlosigkeit gezielt ermöglicht und gefördert haben, man wollte ja die Diktatur aufrechterhalten, die Menschen notfalls zu ihrem sozialistischen Glück zwingen. Sie haben dafür Bürger entweder gelockt oder rücksichtslos erpresst, andere Menschen zu überwachen und anzuschwärzen. Nur so konnte es überhaupt der Stasi gelingen, die gesamte Gesellschaft zu durchdringen.

Es ist gefährlich, wenn sich Politiker jetzt daranmachen, die Definition des Begriffs Unrechtsstaat, der auf die DDR damals zutraf, an die heutigen Bedürfnisse anzupassen. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) und Manuela Schwesig (SPD), Regierungschefin in Mecklenburg-Vorpommern, werfen sich mit heroischer Geste vor ihre ostdeutschen Landsleute und lehnen den Begriff Unrechtsstaat für die DDR ab. Man kann darüber nur staunen. Glauben sie wirklich, dass sie mit dieser absurden Beschützergeste den Bürgern im Osten helfen, ja neue Wähler gewinnen?

Der Widerstand wird beschmutzt

Es ist falsch, so zu tun, als müsste man Ostdeutsche beschützen. Sondern höchste Zeit, dass der Osten einen klaren Blick auf die sozialistische Vergangenheit wirft. Im Westen haben sich Generationen von Nachkriegskindern mit der Schuld ihrer Eltern befasst, auch dagegen rebelliert. Im Osten hat das nie stattgefunden; dabei ist es dringend nötig, weil das alte Dogma unwidersprochen weiterlebt. Im Staatsbürgerkundeunterricht lernte man, wissenschaftlich herzuleiten, dass man auf der Seite der Sieger stand. Zweifel gab es nie. Es liegt auch an diesem Versäumnis, dass der AfD im Osten das Unfassbare gelungen ist, die friedliche Revolution teilweise für sich zu kapern. Wer nur gelernt hat, in radikalen Strukturen zu denken, der schwenkt eher von ganz links nach ganz rechts als zur demokratischen Mitte. Man beschmutzt also nicht die Bürger im Osten, wenn man die DDR einen Unrechtsstaat nennt. Aber man beschmutzt den ungeheuren Mut derjenigen, die den Unrechtsstaat zu Fall gebracht haben, wenn man ihn nicht so nennt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4631569
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.10.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.