DDR-Legenden auf dem Prüfstand:Schein und Sein

Die besten Sportler kamen aus der DDR, die Frauen waren gleichberechtigt und hinter jeder Ecke lauerte ein Stasi-Spitzel. Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall überprüft ein Buch DDR-Legenden.

Matthias Kolb

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DDR-Legenden, Sportnation, dpa

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In dem Buch "Friedensstaat, Leseland, Sportnation?" werden die gängigen DDR-Legenden von Experten überprüft. sueddeutsche.de fasst die Ergebnisse zusammen.

Die Sportnation DDR

"Laufen Sozialisten schneller?" Diese Frage beschäftigte viele in Westeuropa und wurde sogar in Fachaufsätzen beschrieben, nachdem die DDR bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko mehr Goldmedaillen gewonnen hatte als die Bundesrepublik. Die Erfolge der DDR-Athleten hielten an: 1976 und 1988 lag das Land mit seinen 16 Millionen Einwohnern vor den USA und bei den Winterspielen 1984 wurde sogar die UdSSR übertrumpft. Allerdings war der Preis beträchtlich, wie die Historikerin Jutta Braun beschreibt.

1969 wurde der "Leistungssportbeschluss" verabschiedet: Disziplinen, in denen viele Medaillen zu gewinnen waren, wurden als "Sport I" besonders gefördert, während alle Mannschaftssportarten außer Fußball zum "Sport II" herabgestuft wurden. Schwimmen galt wie Rudern oder Leichtathletik als "Sport I", während Wasserball oder Handball als minderwertig galten: Viel Aufwand bei wenig garantiertem Ertrag. Um vor allem die BRD auszustechen, wurden alle Schulkinder laut Braun "akribisch gewogen und vermessen". Weitere Folge des Medaillenwahns: Der Breitensport wurde kaum gefördert, Schwimmbäder und Sportplätze waren heruntergekommen, Laufschuhe für den Normalbürger Mangelware.

Eine Vielzahl von Dokumenten belegt, dass von 1966 an flächendeckend gedopt wurde - dabei wurden Steroide bei Minderjährigen oft als Vitamintabletten dargestellt. Immer wieder überlegten Funktionäre, wie man verhindern könnte, dass etwa Schwimmerinnen mit tiefen Stimmen und breiten Schultern interviewt werden. Moralische Fragen spielten eine untergeordnete Rolle. Nach dem Mauerfall versuchten die Funktionäre, die Pillen und Spritzen zu beseitigen und Akten zu zerstören. In der Wendezeit zeigte sich, dass die Sporterfolge einen weiteren Zweck nicht erfüllten: Das Ansehen der DDR sollte "nach innen und außen" gestärkt werden - doch die Bürger waren nicht mehr stolz auf ihr Land.

Die damals 18 Jahre alte Katarina Witt gewann 1984 Gold bei den Olympischen Winterspielen in Sarajewo. Foto: dpa

DDR-Legenden, Emanzipation, dpa

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Ein Vorbild der Emanzipation

1966 erschien in einer westdeutschen Frauenzeitschrift ein Artikel mit der Überschrift "Das größte Wunder drüben sind die Frauen." Auf dem Papier waren die DDR-Bürgerinnen lange Zeit bessergestellt als ihre Schwestern im Westen: Laut Artikel 7, Absatz 1 der Verfassung waren Mann und Frau gleichberechtigt; auch gleicher Lohn für gleiche Arbeit war garantiert. Allerdings, dies legt Gunilla Budde anschaulich dar, war der Alltag von alten Vorurteilen bestimmt. Hausarbeit und Kindererziehung waren auch in der DDR Frauensache, Männer wurden nur am Internationalen Frauentag aktiv.

Auch wenn zahlreiche Frauen arbeiteten und studierten, gelang es nur wenigen, Spitzenpositionen in Betrieben, Universitäten oder auch innerhalb der SED zu erreichen. Deutlich macht Budde das mit einem Bild: Zwischen den weißhaarigen Herren im Ministerrat habe lediglich die "lila getönte Dauerwelle von Margot Honecker" herausgeleuchtet. Gerade die Akademikerinnen - "Frauen der Intelligenz" genannt - machten den Funktionären Sorgen. Einerseits klagten sie über mangelnde Aufstiegschancen, andererseits waren viele Wissenschaftlerinnen mit einer Nische zufrieden, weil sie sich nicht zu sehr an die Partei binden wollten. Nach und nach bröckelte das Ideal der Kernfamilie: Immer mehr Frauen übernahmen Teilzeitjobs, die Scheidungsrate stieg und die Geburtenzahl fiel - alles Indizien, dass es im "Musterland der Emanzipation" gar nicht so viel besser war als bei den Stiefschwestern im Westen.

Propagandaplakate aus der DDR-Zeit. Foto: dpa

DDR-Legenden, STasi-Staat, ddp

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Die DDR - ein "Stasi-Staat"?

Keine andere Bezeichnung habe so große Emotionen ausgelöst wie "Stasi-Staat", schreibt der Historiker Thomas Großbölting in seinem Beitrag über das politisch brisanteste Thema. Am 31. Oktober 1989 arbeiteten mehr als 91.000 Menschen für das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und 173.000 Männer und Frauen waren als inoffizielle Mitarbeiter tätig. Insgesamt, so wird geschätzt, seien 624.000 Menschen als IM geführt worden. Das Netz war sehr eng: In der UdSSR war ein Agent für 595 Bürger zuständig, in der DDR kam ein Hauptamtlicher auf 180 Bürger.

Großbölting, der als Professor in Münster lehrt, hält es für nachvollziehbar, dass die Vorstellung des spitzelnden Nachbarn, Kollegen oder Onkels die Menschen und Medien im Westen entsetzt, verstört und fasziniert habe. Allerdings sei durch die Konzentration auf die Stasi zu vieles politisiert und überdeckt worden - so sei etwa die Rolle der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nicht ausreichend untersucht worden. Die Stasi-Debatte sei durch die Debatten um die möglichen oder tatsächlichen Verwicklungen von Manfred Stolpe oder Ibrahim Böhme angeheizt worden. Dabei sei noch immer nicht ausreichend erforscht, wie wirksam die Aussagen der IM für das MfS waren - oder ob nur Berichte abgefasst wurden. Auch andere Fragen seien noch unbeantwortet: Welches Selbstverständnis hatten die Stasi-Mitarbeiter, wie wurden diese rekrutiert und welche Rolle spielte die Stasi im Alltag der Bürger?

Die Legende, die DDR sei ein Volk der Spitzel gewesen, weist Großbölting zurück - und beruft sich vor allem auf angelsächsische Wissenschaftler, da diese in dieser politisierten Frage unvoreingenommener seien. Maximal ein Sechstel der Bevölkerung sei in das Funktionieren der Diktatur verwickelt gewesen, schätzt die Britin Mary Fulbrook. Wie schrecklich die Enttarnung von Spitzeln im Freundes- und Bekanntenkreis für viele Betroffene war, bleibt davon unbenommen.

Karteikarten des MfS in der Berliner Stasi-Unterlagenbehörde. Foto: ddp

DDR-Legenden, LEseland, dpa

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Leseland DDR

Nicht nur zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse feierte sich die DDR als "Leseland" - zumindest den Zahlen nach war sie es auch. Ein dichtes Netz an Bibliotheken überzog das Land, die meist staatseigenen Verlage druckten zahlreiche Werke und die Menschen lasen viel und gern. 1990 war Bücherlesen die drittbeliebteste Freizeitbeschäftigung der DDR-Bürger, während die Aktivität im Westen nur auf Platz 9 rangierte. Im Ostblock wurde nur in der Sowjetunion mehr gelesen als in der DDR.

Christoph Links, selbst Verleger, hat dafür eine einleuchtende Erklärung. Gerade die Romane hatten für viele eine Ersatzfunktion: Sie konnten über Dinge und über Länder lesen, die sie selbst nicht tun oder besuchen konnten. Außerdem war die Zensur nicht so stark wie bei Zeitungen oder dem Fernsehen. Seit dem Mauerfall haben sich die Gewohnheiten nahezu angeglichen, denn nun können auch die Ostdeutschen reisen sowie aus einer Vielzahl von Medienangeboten wählen - neben Fernsehen und Musik hören zählen Auto fahren und Feiern zu den Lieblingsbeschäftigungen der Deutschen. 2008 gaben 42 Prozent der Ostdeutschen an, wöchentlich in einem Buch zu lesen, im Westen sind es 43 Prozent. Links bilanziert: "Was also einst als eine besondere kulturelle Leistung herausgestellt wurde, war zugleich ein Reflex auf den Mangel an freien Entscheidungsmöglichkeiten."

Zwei Auflagen des Buches "Mann und Frau intim" des sächsischen Psychologen und Therapeuten Siegfried Schnabl. Foto: dpa

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"Ein Staat der Jugend"

"Es war von vorne bis hinten zum Kotzen, aber wir hatten uns prächtig amüsiert", konstatiert der junge Held in Thomas Brussigs Roman "Sonnenallee". Die SED-Oberen setzten auf die Jugend. Honecker reimte gar: "Die Jugend hilft mit Kopf und Händen, den Sozialismus zu vollenden." Doch der Historiker Marc-Dietrich Ohse beschreibt anhand vieler Zitate, dass die Jugendlichen mit ihren Ideen, Träumen und Wünschen das System oft auf die Probe stellten und genau beobachtet wurden.

Die angeblich überparteiliche Freie Deutsche Jugend (FDJ) war eine Kaderreserve der SED: Wer nicht Mitglied war, dem blieben Bildungswege versperrt. Gerade nach Ereignissen wie dem Mauerbau 1961 oder dem Prager Frühling 1968 traten Zehntausende aus dem Jugendverband aus. Obwohl 1989 noch Hunderttausende Mitglieder der FDJ waren, kollabierte das System. Erfolgreicher war die Jugendweihe, die ab 1955 als weltliches Gegenmodell zur Konfirmation fungierte, um die Kirchen zu schwächen. Deren Jugendarbeit bot vielen Jungen und Mädchen eine schützende Nische und Orientierung. Ohse analysiert: Im Vordergrund stand weniger der "sozialistische Bekenntnisakt" als die Aussicht auf Geschenke, eine große Feier sowie "das launige Ankommen in der Welt der Erwachsenen, das häufig durch reichlich Alkohol bekräftigt wurde".

In den Schulen kam es bis 1989 oft zu Konflikten zwischen den linientreuen Lehrern und den Heranwachsenden, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung einforderten. Auch der Versuch, durch die Gründung eines Jugendradios (DT 64), mehr Jugendklubs oder die Lizenzierung von West-Schallplatten war nicht von Erfolg gekrönt. Subkulturen wie Rock- und Bluesfans in den sechziger Jahren oder später die Hippies waren den SED-Funktionären suspekt: Sie galten als "Gammler" oder "negative Elemente". Die Skepsis war berechtigt, denn nicht nur die Punks wollten sich vom System absetzen.

Dass die jungen Leute die DDR nicht als "Staat der Jugend" ansahen, zeigt sich für Ohse am deutlichsten an den Auswanderungswellen: Vor dem 13. August 1961 war fast die Hälfte der Republikflüchtlinge unter 25 und auch 1989 suchten vor allem junge Leute ihr Glück im Westen. Dennoch würden viele Jugendliche, die in Ostdeutschland aufwuchsen, wohl dem Helden aus "Sonnenallee" zustimmen - nicht nur, weil die Vergleichsmöglichkeiten fehlen. Dieser sagt am Ende des Films: "Es war einmal ein kleines Land namens DDR. Es war die schönste Zeit meines Lebens, denn ich war jung und verliebt."

Junge Männer in FDJ-Hemden tragen am 1. Mai 1987 in Ostberlin die überlebensgroßen Porträts der DDR-Führungsriege. Foto: dpa

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Modernes Bildungssystem

Der Pisa-Schock traf 2003 ganz Deutschland: Die Studie der OECD hatte herausgefunden, dass deutsche Schüler nur mittelmäßig rechnen und lesen können, während die Finnen unangefochten an der Spitze standen. Seitdem hält sich eine Legende, die Skandinavier hätten sich einst ihr Bildungssystem von der DDR abgeguckt. "Von Finnland lernen, heißt von der DDR lernen", so waren Artikel überschrieben, in denen darauf verwiesen wurde, dass finnische Experten DDR-Schulen besuchten. Wolfgang Lambrecht zeigt aber in aller Klarheit auf, dass dieser These nicht zuzustimmen ist.

Zwar gleicht die Polytechnische Oberschule, in der die DDR-Kinder zehn Jahre gemeinsam unterrichtet wurden, der finnischen Gesamtschule. Doch auch in Frankreich, Großbritannien und den USA wurden in den sechziger Jahren Gesamtschulen ähnlichen Typs eingeführt oder existierten bereits. Es sei der allgemeine Trend der Zeit gewesen, nach dem Sputnik-Schock (die UdSSR schoss 1957 einen Satelliten ins All) und der allgemeinen Technikeuphorie verstärkt in Bildung und Forschung zu investieren.

Lambrecht nennt zudem zwei entscheidende Punkte. Während in Finnland alle Kinder nach ihren Talenten gefördert werden sollten, wählte die DDR genau aus: Es zählten nicht nur die Leistungen der Schüler, sondern auch deren "politisch-moralische Grundhaltung". In Finnland, das sich wegen des großen Nachbarns UdSSR um strenge Neutralität im Kalten Krieg bemühte, spielte die politisch-ideologische Beeinflussung der Schüler anders als in der DDR keine Rolle. Der zweite Einwand ist noch einleuchtender: Es sei reine Spekulation, dass die Struktur der Gesamtschule entscheidend für den finnischen Erfolg sei. Faktoren wie kleine Klassen, hohes Sozialprestige des Lehrerberufs, der Einsatz von Computern oder eine gute individuelle Betreuung seien sicher wichtiger.

Im Schulmuseum Leipzig ist ein Klassenzimmer aus DDR-Zeiten nachgestellt. Foto: ddp

DDR-Legenden, Antifaschmismus, AP

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Antifaschismus als Gründungsmythos

Adolf Hitler hatte seine Anhänger in allen Teilen des Deutschen Reiches, weshalb davon auszugehen ist, dass die Mehrheit der DDR-Bürger die NS-Zeit als Mitläufer oder Unterstützer erlebt hatten. Dennoch stilisierte die Propaganda in der Sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise in der DDR die Ostdeutschen zu einem Volk von Widerstandskämpfern. Mitunter wurde die DDR gar als "Überwinder des Nationalsozialismus" bezeichnet: Man fühlte sich als "Sieger der Geschichte".

Anfangs hatte der Antifa-Mythos große Anziehungskraft: Er bot den Mitläufern eine Möglichkeit, sich reinzuwaschen und die Vergangenheit nicht aufarbeiten zu müssen und bot eine klare Abgrenzung zur kapitalistischen BRD. Allerdings bekam das antifaschistische Leitbild schnell seine "moralische Unbescholtenheit", wie Rüdiger Schmidt beschreibt. Der Arbeiteraufstand, den schnell Hunderttausende Bürger unterstützten, wurde am 17. Juni 1953 nur mit Hilfe der Sowjetarmee niedergeschlagen - man habe auf die "faschistische Provokation" des Westens reagieren müssen.

Als Ulbricht die Berliner Mauer als "Antifaschistischen Schutzwall" bezeichnete, hatte das Konzept endgültig seine Legitimation verloren. Zwar hatte bis 1989 jede Stadt in der DDR einen Ernst-Thälmann-Platz und auch in den Schulbüchern spielte der Antifaschismus eine wichtige Rolle, doch Studien und Memos der Stasi belegen, dass die Schüler des Themas überdrüssig waren.

In der DDR-Propaganda hieß die Berliner Mauer "Antifaschistischer Schutzwall". Angehörige der Betriebskampfgruppen marschieren 1966 an einem Plakat vorbei. Foto: AP

DDR-Legenden, dpa, Hort der internationalen Solidarität

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Die DDR als Hort der internationalen Solidarität

In ihrer Propaganda stellte sich die DDR als solidarischer Staat dar: Schließlich wollte man mit den anderen kommunistischen Staaten den Sozialismus verwirklichen. Viele Ausländer bekamen die DDR-Bürger nicht zu Gesicht und diese wurden meist freundlich aufgenommen. Patrice Poutrus nennt Zahlen: Die größte Gruppe bildeten Soldaten der Sowjetarmee sowie Zivilisten aus der Sowjetunion. Zwischen 1945 und 1994 wohnten etwa zehn Millionen Bürger der früheren UdSSR in Ostdeutschland - ein Grund, weshalb auch das wiedervereinigte Deutschland in der Region beliebt ist. Für die DDR-Bürger verkörperten die Sowjetbürger die "Fremden" schlechthin und waren zugleich das Symbol der Fremdherrschaft, denn Moskau sicherte das Überleben der DDR. Tiefsitzende Vorurteile gegenüber Polen und Tschechen fanden sich regelmäßig in der offiziellen Presse.

Trotz aller Floskeln war die Vorgabe klar: Die Ostdeutschen sollten so wenig Kontakt wie möglich mit den Fremden haben. Ausländische Studenten lebten im Wohnheim auf eigenen Stockwerken und die "Vertragsarbeiter" aus Vietnam, Mosambik, Angola und Kuba in abgeschotteten Wohnheimen. Bis 1989 studierten zwischen 64.000 und 78.400 Ausländer an ostdeutschen Hochschulen - die meisten kamen aus sozialistischen Staaten und wurden durch die kostenlose Ausbildung angelockt. Binationale Ehen waren unerwünscht und für die Führung waren die Studenten aus der Ferne meist nur ein Mittel, um auf diplomatischen Parkett als Zeichen der Völkerfreundschaft beschworen zu werden.

Die Vertragsarbeiter waren vielen Ostdeutschen aus zwei Gründen suspekt: Einerseits lebten sie in Gruppen von mindestens 50 Menschen in ihrer eigenen Welt und andererseits brachten sie in den Betrieben einiges durcheinander. Die Migranten kamen meist für einige Jahre und wollten deswegen so viel Geld wie möglich nach Hause schicken. Wer die Norm erfüllte oder noch mehr leistete, bekam auch in der DDR mehr Geld. Zudem kauften die Vertragsarbeiter vor allem in den achtziger Jahren mit ihrem Lohn Waren, die es in ihrer Heimat nicht gab - Waschmaschinen, Fahrräder oder Mopeds waren besonders beliebt.

Auch dass sich seit den siebziger Jahren immer mehr Skinheadgruppen in der DDR bildeten, zeigt deutlich, dass die Losungen der "internationalen Solidarität" kaum überzeugten.

Auch PLO-Chef Jassir Arafat besuchte regelmäßig die DDR, zum Beispiel 1974 ein internationales Ferienlager im Bezirk Frankfurt an der Oder. Foto: dpa

DDR-Legenden, Arbeiterstaat, dpa

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Soziale Sicherheit im Arbeiterstaat

Christoph Kleßmann ist sich sicher: Der Anspruch der SED, einen "Arbeiter- und Bauernstaat" geschaffen zu haben, war politisch verlogen, aber keineswegs sozial belanglos. Zwar habe es in der DDR nicht die von Karl Marx ersehnte "Diktatur des Proletariats" gegeben, sondern die Herrschaft einer kleinen Machtelite aus SED-Funktionären. Doch gerade in den Anfangsjahren waren viele Arbeiter voller Hoffnung. Allerdings sorgte der niedergeschlagene Aufstand 1953 für Ernüchterung, Entfremdung und Massenflucht in den Westen. In den Betrieben waren die Arbeiter gut organisiert, aber es fehlten Bildungschancen und im Vergleich zur BRD die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. 1989 überschrieb der Spiegel eine Reportage über DDR-Arbeiter mit der Überschrift "Hier ist nischt mehr zu retten" - eine Einschätzung, die allgemein geteilt wurde.

Dierk Hoffmann untersucht in seinem Text die heute oft verklärte "soziale Sicherheit" im SED-Staat. Die Verfassung garantierte ein Recht auf Arbeit, was dazu führte, dass ein Angestellter nur mit Zustimmung der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) entlassen werden konnte - und es eine neue Stelle für ihn gab. Da unrentable Betriebe nicht geschlossen wurden, war die Arbeitslosenquote niedrig, aber leider auch die Produktivität und Motivation der Arbeiter. Die Beschäftigungspolitik der DDR litt unter einem Grundproblem: Mindestens 2,75 Millionen Menschen waren bis zum Mauerbau 1961 in den Westen geflohen, oftmals jung und gut ausgebildet. Dieser "Mangel an Arbeitskräften" wurde oft durch eine Hortung derselben in den Betrieben ausgeglichen - die Jobs existierten nur auf dem Papier. Dass Hunderttausende Rentner weiterhin arbeiten mussten, offenbart, wie schlecht das Rentensystem funktionierte. Die Höhe der Zahlungen war nämlich anders als im Westen nicht an die Entwicklung der Löhne und Gehälter gekoppelt, weshalb die Schere zwischen Bruttoeinkommen und Altersrenten immer weiter auseinander ging. Die älteren DDR-Bürger litten unter einer Prämisse der SED-Führung: Die Wirtschaftspolitik hatte stets Vorrang vor der Sozialpolitik, aber letztlich scheiterten beide.

Arbeiter in der Kantine in Leipzig, 1971 Mittagessen in einer Betriebskantine. Foto: dpa

Der Sammelband "Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand" ist im Berliner Christoph Links Verlag erschienen und kostet 19,90 Euro .

(sueddeutsche.de/gba)

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