Auf einmal bestand dieses Vakuum, und plötzlich redeten Menschen miteinander, die Gegner und oft Feinde gewesen waren. Am 9. November 1989 war die Mauer gefallen. Die DDR gab es noch. Aber die Macht der Einheitspartei SED bröckelte, das Regime verlor die Kontrolle. Also drang die Bürgerbewegung auf einen "Runden Tisch", wie es ihn schon in Polen gab. In einem offenen Dialog wollte sie mit der Regierung, von der sie lange gnadenlos verfolgt worden war, über die Zukunft der DDR beraten. "Zu diesem Zeitpunkt war die Angst weg, dass es sich noch einmal drehen könnte", erinnert sich Matthias Reichelt, damals einer der Organisatoren. Man musste nicht mehr befürchten, dass die Machthaber mit Gewalt antworten würden. Ein befreiendes Gefühl: "Es fing schon damit an, dass man offen reden konnte."
Also wurde am "Zentralen Runden Tisch der DDR" frei geredet, aber auch schnell entschieden, die Bürgerbewegung wollte das Vakuum für den friedlichen Übergang nutzen. Am 7. Dezember vor dreißig Jahren traf sich der "Runde Tisch", der faktisch eckig war, zum ersten Mal im Berliner Dietrich-Bonhoeffer-Haus. 15 Sitzungen folgten, weil der Raum zu eng war, bald im Schloss Niederschönhausen, bis zum März. Zum Jahrestag soll es an diesem Samstagnachmittag eine 17. Sitzung geben, nicht nur um Erinnerungen zu pflegen. Die Organisatoren wollen an die besondere Gesprächsatmosphäre, das gemeinsame Ringen um Lösungen, anknüpfen.
Der "Runde Tisch" wurde landesweit zum Modell. Es gab viele lokale Nachahmer, wo immer man spürte, dass auf Augenhöhe ohne oben und unten diskutiert werden sollte. Den "Zentralen Runden Tisch" moderierten Vertreter der Kirchen. Stundenlang berieten Vertreter der alten Blockparteien mit der jungen Opposition, den neu gegründeten Grünen und der Ost-SPD, dem "Neuen Forum" und "Demokratie Jetzt". Die Idee für dieses Forum hatten Bürgerrechtler schon im Sommer gehabt, so erinnert sich Matthias Reichelt, der als Kirchenmitarbeiter als Leiter des "Arbeitssekretariats" für den "Runden Tisch" erst vieles herbeischaffen musste: etwa Schreibmaschinen, um die Entscheidungen zu notieren.
Dieses Provisorium übernahm ein weites Stück der Macht in der DDR. Viele Beschlüsse begannen mit den Worten: "Die Volkskammer möge beschließen ..." So wurden Neuwahlen beschlossen, die Auflösung der Stasi verlangt. Auch eine neue Verfassung der DDR sollte es geben. Über das Letzte ging die Geschichte hinweg, für manche Beteiligte ein Ärgernis. Am Samstag sollen bei der vom Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützten Sitzung Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes unter abwechselnder Moderation diskutiert, beschlossen oder verworfen werden.
Zeitzeuge Reichelt hat die Sitzungen der wilden Wendezeit als beispielhaft in Erinnerung. Das Misstrauen sei groß gewesen. Es gab naturgemäß Streit, aber man habe einander zugehört, der "Runde Tisch" entwickelte damit große Integrationskraft. "Die Zeit heute ist nun einmal eine andere", sagt er und wünscht sich doch etwas von jener Kultur des Redens. "Ich finde, das kann nur von unten passieren", sagt Reichelt, nämlich wenn man nicht in Smartphones gucke, "sondern ohne Hasstiraden zuhört und sich fragt, wie kommt der andere zu seiner uns fremden Einstellung".