DDR-Bürgerrechtler:"Demokratie ist ein Angebot"

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Im Mai 1989 boykottierte Tobias Hollitzer die Kommunalwahl im SED-Staat, die eine Farce war. Heute ärgert ihn die wachsende Politikmüdigkeit - und die Vorstellung, es gebe richtige und falsche Wahlergebnisse.

Interview von Ulrike Nimz, Leipzig

Wer den Stimmzettel faltete und in die Urne warf, hatte die "Nationale Front" gewählt, so einfach war das. Trotzdem gab es bei der Kommunalwahl 1989 nicht die gewünschten 99 Prozent - die DDR-Staatsführung musste nachhelfen. (Foto: dpa)

Vor 30 Jahren gelang es Bürgerrechtlern und Kirchenleuten, Manipulationen bei der Kommunalwahl in der DDR nachzuweisen. Seither gilt der 7. Mai 1989 als Meilenstein der friedlichen Revolution. Tobias Hollitzer ist Leiter der Stasi-Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke" in Leipzig und verfolgte an jenem Tag die Stimmenauszählung. Ein Gespräch über das Falten von Zetteln, Wahlschlepper und die Landtagswahlen im Osten.

SZ: Herr Hollitzer, 1989 waren Sie 23 Jahre alt und Erstwähler. Wie haben Sie den 7. Mai in Leipzig in Erinnerung?

Tobias Hollitzer: Ein paar Freunde und ich hatten uns vorgenommen, die Bodenkammer aufzuräumen. Das schien uns an einem solchen Tag das sinnvollste Zeichen zu sein. Das war ja keine Wahl, sondern eine reine Akklamationsveranstaltung. Irgendwann schlichen dann zwei Funktionäre die Bodentreppe hoch und wollte mich überzeugen, doch noch ins Wahllokal zu kommen.

Solche Besucher wurden im Volksmund "Wahlschlepper" genannt. Waren Sie eingeschüchtert?

Nein. Ich hatte ja schon die vormilitärische Ausbildung in der Schule verweigert, deswegen kein Abitur machen dürfen und war seit Jahren in kirchlichen Umweltgruppen aktiv. Ich bin dann kurz nach Schließung in mein Wahllokal in der 43. Oberschule gegangen, um die Auszählung zu kontrollieren.

Sie waren einer von vielen. Nachdem es bereits bei den letzten Volkskammerwahlen Fälschungsvorwürfe gegeben hatte, verabredeten sich Oppositionelle im ganzen Land zur Beobachtung der Auszählung.

Das war vor allem eine logistische Herausforderung. Um das Ergebnis eines ganzen Wahlkreises zu überprüfen, musste man ja in einer Vielzahl von Wahllokalen vor Ort sein. Hinzu kam das Problem, dass es eine ganze Reihe Sonder-Wahllokale für Studenten, Volksarmisten und Volkspolizisten gab. Nach einem der Vorbereitungstreffen folgte mir mal ein weißer Lada und stoppte mich in Wildwestmanier auf dem Fußweg. Ich wurde dann von der Stasi stundenlang befragt. Die kriegten natürlich mit, dass landauf, landab Wahlkontrollen vorbereitet wurden.

Wie war die Stimmung im Wahllokal?

Angespannt. Die Genossen waren vorbereitet. Sie haben mich dann in die äußerste Ecke das Klassenzimmers dirigiert, um ungestört auszählen zu können. Das eigentliche Wahlprozedere war ja absurd: Es standen nur die Namen der Liste der "Nationalen Front" auf dem Zettel. Um mit Ja zu stimmen, musste man den Wahlzettel nur falten und in die Wahlurne werfen. Für eine Neinstimme aber musste jeder aufgeführte Kandidat sauber waagerecht durchgestrichen werden, so hatte es zumindest die Runde gemacht. Im Prinzip war ein Nein nicht vorgesehen, eine Auswahl gab es gar nicht.

Was war das Ergebnis der Auszählung?

Es waren mehr als 90 Prozent, aber eben nicht die 99 Prozent, die die SED immer wollte. Man darf nicht vergessen: Die meisten von denen, die zur Wahl gegangen sind, haben ihren Zettel auch brav gefaltet. Ich bin anschließend mit dem Fahrrad zum Marktplatz gefahren. Dort war eine weitere Aktion geplant: Die roten Wahlbenachrichtigungskarten sollten in einer Urne gesammelt werden. Schaut: Wir beteiligen uns nicht an dieser "Schein-Wahl". Der Marktplatz war voll. Vor dem Rathaus wurde eine Gruppe Punks grundlos von der Polizei verhaftet. Ich habe fotografiert und dafür selbst die Nacht auf dem Revier der Volkspolizei verbracht - mit über 70 anderen Verhafteten.

Tobias Hollitzer, 52, arbeitete in der DDR als Tischler und war in oppositionellen Gruppen aktiv. 1990 wurde er im Auftrag des Stasi-Unterlagenausschusses Archivbeauftragter für Leipzig. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes. (Foto: picture alliance / dpa)

Sie haben die Kommunalwahl 1989 mal als "Sargnagel der Diktatur" bezeichnet. Welche Bedeutung hatte der 7. Mai mit Blick auf die Friedliche Revolution?

In der Summe wurde deutlich, dass die tatsächlichen Wahlergebnisse an vielen Orten von den verkündeten abwichen. Als über den Wahlbetrug in den West-Nachrichten berichtet wurde, war wohl auch für viele Bürger, die sich ganz gut eingerichtet hatten in der DDR, eine Grenze überschritten. Einen Monat später, beim oppositionellen Straßenmusikfestival in Leipzig, haben die Leute dann gesehen, wie friedliche Musiker auf Polizeilaster geladen wurden. So kamen viele Dinge zusammen, die erklären, warum die Menschen in Leipzig früher auf der Straße waren als anderswo.

Bis zum Fall der Mauer vergingen aber noch Monate.

Das Regime hatte sich bis auf die Knochen blamiert, aber die machten erst mal weiter wie bisher. Laut DDR-Wahlgesetz mussten die Ergebnisse in einer Bürgerversammlung verkündet werden. Jeder Anwesende hatte das Recht, Einspruch zu erheben. Wie durch ein Wunder war der Raum dann mit SED-Genossen gefüllt, und alle anderen mussten nebenan Platz nehmen, um über Lautsprecher ohnmächtig von der angeblichen Rechtmäßigkeit der Wahl zu hören. Es gab Anzeigen wegen Wahlfälschung, aber die wurden alle zurückgewiesen. Später, bei der Stasi-Auflösung, haben wir eine entsprechende Anweisung Erich Mielkes an alle Staatsanwälte gefunden, samt vorformuliertem Text.

Ende Mai werden in mehreren Bundesländern die Kommunalparlamente gewählt. Im Jahr 2014 lag die Wahlbeteiligung in Sachsen bei nicht einmal 50 Prozent.

Nach meiner Erfahrung mit der Abwesenheit des demokratischen Rechtsstaates in der SED-Diktatur deprimiert mich das stets aufs Neue, zeigt aber auch: Demokratie ist immer nur ein Angebot, dass wir aktiv gestalten müssen. Ich spüre in ganz Deutschland eine zunehmende Abstinenz, was die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Zusammenhängen und Problemlagen angeht. Die Bereitschaft zum Kompromiss nimmt unter den Bürgern ab, in der Politik aber auch. Ich war richtig sauer, als die Jamaika-Koalition auf Bundeseben geplatzt ist. Sicher, die Parteipositionen waren weit voneinander entfernt, aber wenn die Wähler mit derart unterschiedlichen Einstellungen in diesem Land zusammenleben, dann muss ich von Politikern erwarten können, dass sie diese Realitäten akzeptieren und ebenso zusammenarbeiten.

Heute berufen sich wieder viele AfD-Anhänger im Osten auf die friedliche Revolution, träumen aber eigentlich vom Systemsturz. Was erwarten Sie von den Landtagswahlen im Herbst?

Auch mich haben die hohen Zustimmungswerte für die AfD erschreckt. Mit der Friedlichen Revolution von 1989 haben deren Ideen allerdings nichts gemeinsam. Wir müssen auch aufhören, eine paternalistische Idee von Demokratie zu pflegen, bei der es so etwas wie ein gutes oder ein schlechtes Wahlergebnis gibt. Mit extremen Positionen - egal aus welcher politischen Richtung - müssen wir uns gesellschaftlich auseinandersetzen. Solange aber die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht in Frage gestellt wird, ist der Rest offen. Den herbeigeredeten Systemumsturz befürchte ich nicht.

© SZ vom 07.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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