Data Mining im Wahlkampf:Amerikas gläserne Wähler

Biersorte, Automarke, Startseite im Browser: Obama und Romney investieren Millionen, um Informationen über die Wähler zu horten - bis zu 500 Details jedes Bürgers. Mit Algorithmen suchen Strategen die richtige Botschaft für jeden Wähler. Das Rennen ums Weiße Haus könnte im digitalen Raum entschieden werden.

Matthias Kolb, Washington

Die Amerikaner stöhnen über negative Wahlvideos und zahllose E-Mails von Obama oder Romney. Doch was Laien für eine riesige Werbe-Flut halten, ist minutiös geplant. Die Strategen investieren Millionen, um bis zu 500 Informationsdetails pro Bürger zu horten - etwa die bevorzugte Biersorte, liebste Automarke oder Startseite im Browser. Mit Algorithmen suchen sie nach der passenden Botschaft für die kleinste Wählergruppe und nutzen modernste Technik, um sicherzustellen, dass diese wirklich abstimmen.

Seit Anfang Januar wohne ich in Washington, aber als Deutscher darf ich nicht in Amerika wählen. Trotzdem bekomme ich seit Monaten täglich mehrere E-Mails der Kampagnen von US-Präsident Obama und dessen Herausforderer Mitt Romney, denn wer sich über deren Programme informieren will, muss zwangsläufig seine E-Mail-Adresse und Postleitzahl angeben - aber nicht die Nationalität.

Bis September hatte mich die Flut an Nachrichten und Spenden-Aufrufen eher amüsiert, doch nun lese ich die E-Mails mit anderen Augen. "The total you've donated to the 2012 campaign" lautet der Betreff einer Nachricht, die Rufus Gifford aus dem Obama-Team mir 22. Oktober schickt. Schwarz auf weiß steht da: $0 habe ich gespendet, mein letzter Beitrag waren ebenfalls null Dollar.

Appell an das schlechte Gewissen

Ganz klar: Obamas Berater appellieren an mein schlechtes Gewissen und diese Methode ist äußerst effektiv, wie mir Sasha Issenberg beim Parteitag der Demokraten in Charlotte erklärt hat. Der Journalist beschreibt in seinem Buch "The Victory Lab", wie die Wahlkämpfer heute Erkenntnisse aus der Verhaltenspsychologie und aus sozialwissenschaftlichen Experimenten nutzen.

So wäre es theoretisch sehr effektiv, Briefe zu verschicken, die mitteilen, dass die Namen aller Nichtwähler im Internet oder in der Tageszeitung veröffentlicht werden. In Feldversuchen stieg die Wahlbeteiligung enorm, doch noch traut sich kein Politiker, das erpresserische Mittel einzusetzen. Andere Erkenntnisse kommen in der Praxis zur Anwendung: Freiwillige fragen Bürger nicht nur, ob sie wählen werden, sondern auch wann - wenn Menschen den Wahlakt gedanklich in ihren Tagesablauf verankern, geben sie mit höherer Wahrscheinlichkeit ihre Stimme ab.

Issenbergs Buch über "die geheime Wissenschaft, Wahlen zu gewinnen" (Untertitel) enthält viele solche Beispiele aus Wahlkämpfen der letzten 80er Jahre und ist eine Bibel für Polit-Junkies. Besonders interessant ist seine Beschreibung des aktuellen Duells zwischen Obama und Romney. Dies sind die fünf Erkenntnisse aus meinem Interview mit Issenberg über den Wahlkampf 2012.

Micro-Targeting - es geht um mehr als Biersorten

Eigentlich hätte Obama im Vorwahlkampf 2008 gegen Hillary Clinton keine Chance haben dürfen: Die Präsidentengattin war bekannter, besser in der Partei verankert und viel erfahrener. Das Unmögliche gelang dank datenbesessener Berater wie David Plouffe, die wochenlang über Tabellen brüteten und berechneten, wie viele Neuwähler etwa in welchen Teilen Iowas registriert sein mussten, um die Favoritin zu schlagen. Bereits 2008 nutzte das Obama-Team Facebook und Twitter, um Anhänger zu mobilisieren und um Spenden zu werben. Seither hat sich viel getan, sagt Issenberg:

"Es gab vor vier Jahren all diese Artikel, wie brilliant Obamas Digital-Strategie war. Doch im Team waren viele frustriert, weil zahlreiche Informationen nur in einer Datenbank waren und nicht integriert wurden. Sie haben also das Projekt 'Narwhal' begonnen, das alle Daten synchronisiert.

Heute haben Obamas Leute einen 360-Grad-Blick auf einen Wähler wie George: Wenn ein Freiwilliger an Georges Tür klopft, dann weiß er, dass George vor drei Tagen Post von der Zentrale bekommen hat und dass man ihn abends in einer E-Mail um Spenden bitten wird." Alle Informationen, die Nutzer ein Mal auf Obamas Website oder über ein "Like" auf Facebook mitgeteilt haben, werden nun mit anderen Daten kombiniert, die etwa über das Wahlregister öffentlich verfügbar sind und auch für Millionen Dollar gekauft werden. Der Chef von Aristotle, einer der größten Firmen dieser Branche, sagte im Interview mit PBS, über manche Bürger existierten bis zu 500 verschiedene Informationsdetails.

Wahlkampf der Tracking-Tools

Hier geht es um Angaben wie Bildungsabschluss, Zeitschriftenabos, Waffenbesitz oder die Automarke. Die Strategen wollen die Gesellschaft in möglichst kleine Teile zerlegen und per Microtargeting jedem Wähler eine passende Botschaft zukommen lassen. Erst im Gespräch mit Issenberg wird mir klar: Die oft (auch in der SZ) zitierten Infos, dass Subaru-Fahrer eher Demokraten unterstützen und Fans von Becks-Bier Republikaner wählen, besitzen als solche wenig Aussagekraft: Erst wenn sie zusammen mit anderen Daten durch Algorithmen gejagt werden, sind sie nutzbar.

Anhand dieser Profile wissen die Strategen beider Parteien, auf welchen Kanälen sie die Wähler ansprechen können: eine Werbung bei Facebook, ein Online-Clip vor "The Colbert-Report" oder ein Brief mit Infomaterial, was Obama für Homosexuelle tut. Um die Online-Wahlwerbung zielsicherer zu machen, installieren die Kampagnen Tracking-Tools, um mehr über das Surfverhalten der Nutzer zu erfahren: Im September waren 73 Spione auf barackobama.com platziert, bei mittromney.com 40 (Details bei der New York Times).

Neue Wirksamkeit altbekannter Strategien

Auch wenn in Präsidentschaftswahlkämpfen Milliarden ausgegeben werden, suchen die Manager stets nach einem möglichst effizienten Einsatz ihrer Ressourcen. Das Obama-Lager hat eine iPad-App entwickelt, mit der die Freiwilligen durch Stadtviertel gehen können und in jedem Häuserblock sehen können, wo die eingefleischten Obama-Fans oder unentschlossenen Wähler wohnen, die sie überzeugen sollen. An die Türen von Republikanern klopfen sie nicht - und verlieren so keine Zeit.

Auch bei der Registrierung von Neuwählern, einem wichtigen Baustein in Obamas Wiederwahl-Strategie, wird mit modernster Technik gearbeitet: Alle Daten werden abends synchronisiert, damit die Planer in Chicago wissen, ob alle Vorgaben eingehalten werden. Über eine so genannte Dashboard-App können Obama-Fans von zuhause ihre eigene phone bank starten, um sich gemeinsam zu treffen und potentielle Wähler anzurufen - die Nummern werden ihnen geliefert.

Issenberg betont immer wieder: Die persönliche Ansprache, am besten durch Nachbarn oder Kollegen, ist an Effektivität nicht zu überbieten im ground game, jener Basisstrategie, bei der es darum geht, sicherzustellen, dass alle Sympathisanten ihre Stimme abgeben - nach Möglichkeit schon vor dem Wahltag.

Getestet wird 24 Stunden am Tag

Ein Vorteil des digitalen Wahlkampfs besteht darin, dass permanent getestet werden kann, welche Themen die Bürger aufwühlen und welche Personen am populärsten sind. Dies klappe besonders gut mit E-Mails, erklärt Sasha Issenberg:

"Seit Jahren werden so genannte AB-Tests gemacht. Man schickt also E-Mails mit einem Spendenaufruf an ein paar Anhänger, die Bill Clinton als Absender nennt - und eine wortgleiche Mail mit Hillary als Absenderin. Dann wird verglichen, welche Mail mehr Dollars einbringt. Diese Version wird dann an alle Empfänger in der Datenbank gesendet. Die Kampagnen sammeln immer genaueres Wissen darüber, welche Begriffe in den Betreff-Zeilen funktionieren und auch, zu welcher Uhrzeit die E-Mails am besten verschickt werden sollen."

Die Obama-Kampagne testet ständig in Kleingruppen, welche Videos welche Reaktionen auslösen, dazu lässt sich etwa anhand der "Likes" bei Facebook oder der Klickzahlen bei YouTube nachvollziehen, ob das Interesse nachlässt.

Zac Moffat, Stratege für den Digitalwahlkampf von Mitt Romney, spricht bei PBS über einen anderen Aspekt des Online-Wahlkampfs: Jeder dritte Amerikaner sei über TV-Wahlwerbung nicht mehr zu erreichen ("off the grid"), da er entweder nur noch im Netz guckt oder alle Sendungen digital aufzeichnet und die Werbung rausschneidet. Also müsse man diese Millionen potentieller Wähler dort ansprechen, wo sie sich aufhalten - bei Facebook, YouTube oder auf ihren Lieblingswebsites.

Vorteil Obama?

Der Amtsinhaber hat viele Vorteile: Die Air Force One fliegt ihn überall hin, bei jedem Auftritt ist das Signum des Präsidenten zu sehen und auch nach einer Naturkatastrophe wie Sandy kann er Entschlusskraft zeigen. Er selbst kann Kontakt zu Spendern halten, die seine Wahlkampfkasse füllen und sein Beraterteam hat fast vier Jahre Zeit, eine möglichst gute Organisation für die Wiederwahl aufzubauen, ohne sich wie Mitt Romney durch einen Vorwahlkampf quälen zu müssen.

Also muss der Herausforderer verstärkt auf externe Dienstleister setzen, während die Obama-Leute in jedem Bundesstaat eigene Datenanalysten platziert haben, die in die Organisation eingebunden sind. Issenberg hat in einem Artikel mit dem Titel "Obama macht's besser" Anfang dieser Woche ein Urteil gefällt: "Die politische Rechte liegt 2012 sehr weit hinter Obama und seinen Verbündeten zurück, wenn es um die Nutzung von Daten für die Organisation der Wählermobilisierung geht."

Einen ähnlichen Eindruck hat auch Mark Halperin, Korrespondent des Time-Magazine und Ko-Autor von "Game Change", dem wichtigsten Buch über die Wahl 2008. Er schildert in einem lesenswerten Blog-Beitrag seine Gespräche mit den Obama-Strategen in Chicago und bemerkt ein unerschütterliches Vertrauen in das eigene, auf unzähligen Daten basierenden Modell. Ein Berater drückt es so aus: "Ich wäre fassungslos, wenn wir diese Wahl verlieren, weil unsere Kalkulationen falsch waren."

Die Folgen für Bürger und Medien

Je mehr ich über Data-Mining im Wahlkampf lese (Artikelserie auf Slate.com oder das 'Message Machine'-Projekt der Stiftung Pro Publica), desto öfter kam mir der Gedanke, ob diese Entwicklung nicht eine Gefahr für die US-Demokratie sein könnte. Dass die Amerikaner eine andere Sicht auf Datenschutz haben, ist mir bewusst, doch eigentlich sollten Politiker für ihre Ideen werben und die Bürger nicht nur mit Themen konfrontieren, die diese ohnehin interessieren.

Sasha Issenberg macht sich aus zwei Gründen keine Sorgen über diese Entwicklung: Erstens hätten Wahlkämpfer in der Vergangenheit stets die modernste Technik genutzt, um für sich zu werben und die Bürger seien damit gut zurecht gekommen. Schließlich können sie über viele Feedback-Kanäle zeigen, welche Themen ihnen wichtig sind.

Zweitens gingen die Berater von Obama und Romney viel sensibler mit den Daten um als Firmen und würden peinlich genau auf Privatsphäre der Nutzer achten, damit ihnen kein Anhänger verloren geht. Deshalb sei es ein wichtiges Ziel, keine Daten an Dritte weiterzugeben - und auch so wenige Nutzer wie möglich zu nerven, damit diese nicht künftig alle E-Mails löschen oder sogar auf den "Abmelden"-Button drücken.

Bedenken hat Issenberg an anderer Stelle. Es werde immer schwieriger, kompetent über moderne Wahlkämpfe zu berichten, weil Journalisten keinen Zugang zu den Datenbergen der Kampagnen hätten und ihnen auch die Fähigkeit fehle, die Daten zu interpretieren. Selbstkritisch sagt Issenberg:

"In den letzten zehn, zwanzig Jahren sind die Wahlkampf-Teams viel klüger geworden. Sie verfügen mittlerweile über extrem viele Werkzeuge und Daten, die wir Journalisten nicht kennen. Es gibt da zwei verschiedene Denkschulen, wenn es um Wahlkämpfe geht: Die Reporter setzen auf ihre Erfahrung und ihr Bauchgefühl, die Strategen stützen alles auf Daten. Diese Kluft ist problematisch, denn ich fürchte dass Journalisten nicht genug wissen, um intelligent über die Wahlkämpfe zu informieren, die sie begleiten."

Als ich mit Issenberg sprach, war der Wahltermin noch zwei Monate entfernt. Nun wird der Abstand zwischen Obama und Romney täglich kleiner, die Umfrage-Ergebnisse verwirrender - und seine Zustandsbeschreibung erscheint immer passender.

Linktipp: Der TV-Sender PBS zeigt in einer halbstündigen Dokumentation, wie die Teams von Romney und Obama mithilfe von riesigen Datensätzen und Algorithmen Wahlkampf machen. Der Essay von Sasha Issenberg zur Frage, inwieweit Journalisten kompetent über den datengetriebenen Wahlkampf berichten können, erschien in der New York Times.

Der Autor twittert unter @matikolb.

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