Das Wahlparadoxon:Warum überhaupt noch wählen?

Landtagswahl NRW

Was zählt noch die einzelne Stimme? Mehr als 60 Millionen Wahlberechtigte wird es bei der kommenden Bundestagswahl geben.

(Foto: dpa)

In modernen Massendemokratien reduziert sich der Einfluss einer Stimme auf ein Minimum. Warum Wählen trotzdem sinnvoll ist.

Von Benedikt Herber

Am Morgen des 24. Juni blickten viele Briten ungläubig auf die Bildschirme ihrer Fernseher, PCs und Smartphones - und verfluchten dabei die Gelassenheit, mit der sie es sich am Vorabend auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten, anstatt den nasskalten Weg zur Wahlkabine anzutreten. Eine knappe Mehrheit von nur drei Prozentpunkten hatte den Ausstieg der Briten aus der Europäischen Union besiegelt. Drei Prozentpunkte, die über die Zukunft eines ganzen Landes entscheiden? Wären nur mehr Menschen zur Wahl gegangen, dann hätte die Katastrophe vielleicht noch abgewendet werden können, so sahen es viele im Remain-Lager.

Doch entsprechen drei Prozentpunkte in Großbritannien mehr als 1,2 Millionen Stimmen - für den Einzelnen gibt es eigentlich keinen Grund, die Nichtwahl zu bereuen. Man kann das nämlich auch einfach so sehen: Wenn 1,2 Millionen Stimmen fehlten, dann kam es auf eine auch nicht mehr an. Einige Politologen gehen noch einen Schritt weiter: Solange man mit seiner Stimme eine Wahl nicht entscheiden kann, lohne sich der Gang zur Wahlurne grundsätzlich nicht. Der Akt des Wählens sei demnach irrational - so sprechen sie vom Wahlparadoxon, da ja dennoch gewählt wird.

Wählen als irrationaler Akt?

Es ist zwar richtig, dass die fehlenden Stimmen oft den entscheidenden Unterschied machen. Aber den Entschluss zu wählen trifft man nicht im Kollektiv: Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob es den Aufwand wert ist - und theoretisch angesichts Millionen Stimmberechtigter resignieren. Aber dazu später mehr.

Das Ungeheure an der Feststellung, Wählen sei irrational, ist die Tatsache, dass sich damit theoretisch gegen die Demokratie argumentieren ließe. Denn: Die Wahlbeteiligung müsste demnach bei null Prozent liegen und die Demokratie scheitern. In den 72 Prozent Wahlbeteiligung beim Brexit zeigt sich der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, den die Wissenschaftler für paradox halten.

Aber was heißt überhaupt rational? Forscher, die behaupten, Wählen sei paradox, gehen vom Menschenbild des Homo oeconomicus aus - des wirtschaftlichen Menschen: Eine Handlung ist immer dann rational, wenn nach der Abwägung aller Handlungsalternativen die gewinnbringendste ausgewählt wird. Kosten-Nutzen-Abwägungen wären demnach Antrieb allen menschlichen Handelns.

Die Vorteile des Zuhausebleibens überwiegen

Für den Wähler bedeutet das: Er versucht mit der Abgabe seiner Stimme, persönliche Interessen durchzusetzen. Er will eine Politik voranbringen, die ihn entweder persönlich begünstigt oder die er aus ideellen Gründen für gut hält. Der Aufwand, seine Stimme abzugeben, ist prinzipiell aber immer größer als der Nutzen: Der geht gegen null. Einfluss auf die Politik hat der Wähler nämlich nur dann, wenn seine Stimme eine 50:50-Situation bei einer Präsidentschaftswahl beziehungsweise einem Referendum entscheidet oder dazu führt, dass eine Partei bei einer Parlamentswahl einen zusätzlichen Sitz bekommt.

Die Handlungsalternative, zu Hause zu bleiben, um es sich vor dem Fernseher bequem zu machen, ist dagegen mit keinen Kosten verbunden, erzeugt aber einen klar sichtbaren Nutzen - der Wahlgang lohnt sich also nicht mehr. Kritiker des Homo oeconomicus sehen in diesem Widerspruch den Beleg, dass sich menschliches Handeln doch nicht so einfach abbilden lässt.

Die Gegenseite kontert: Dann müsse es eben eine Einflussgröße geben, die in der ursprünglichen Rechnung übersehen wurde. Neben dem bloßen Versuch, seine Interessen durchzusetzen, existiert demnach so etwas wie ein staatsbürgerliches Pflichtgefühl - dessen Befriedigung auf der Nutzenseite verrechnet werden kann. Das heißt: man geht wählen, weil man das als guter Demokrat eben so macht.

Hier stehe der Forscher vor der nächsten Herausforderung, erklärt Oliver Pamp, Dozent am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft in München: Wie lässt sich dieses Pflichtbewusstsein messen? Ein möglicher Zugang wären Umfragen zur Demokratieeinstellung.

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