Das politische Buch: "Winner-Take-All Politics":US-Superreiche werden immer reicher - auf Kosten der Mittelklasse

Seit Ronald Reagans Amtszeit wird das Vermögen der USA systematisch und massiv von unten nach oben umverteilt. Einen "dreißigjährigen Krieg" nennen das die US-Politologen Jacob Hacker und Paul Pierson in ihrem wuchtigen, mythenzerstörenden Buch "Winner-Take-All Politics".

Lutz Lichtenberger

Das Regierungsgebäude befindet sich im Belagerungszustand, Tausende Protestierende singen, trommeln und pfeifen. Vertreter des Regimes werden angebrüllt, ihre Häuser überwacht, aus dem ganzen Land melden sich Unterstützer, spenden Lebensmittel und Geld, bekunden ihre Solidarität. Der Regierungschef überlegt am Telefon mit einem schwerreichen Getreuen, ob man Unruhestifter anheuern und unter das Volk mischen sollte.

Hundert-Dollar-Scheine

Zwischen 1979 und 2005 sind 20 Prozent aller Einkommenszuwächse in den USA an die 0,1 Prozent der Topverdiener, die 300.000 reichsten Amerikaner, gegangen. Die unteren 60 Prozent, etwa 180 Millionen Menschen, mussten sich mit 13,5 Prozent begnügen.

(Foto: iStockphoto)

Die Szenen stammen nicht aus Tunesien, Ägypten oder Libyen, sondern aus Madison, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Wisconsin, wo Staatsbedienstete, Lehrer, Gewerkschaftsmitglieder gegen ein Gesetz aufbegehren, mit dem ihnen die Gehälter gekürzt und das Tarifrecht entzogen werden soll.

Berichtigt werden muss an der Schlachtbeschreibung allein, dass der Anrufer bei Gouverneur Scott Walker nicht der echte David Koch war, der milliardenschwere Großindustrielle und Hauptsponsor der rechtspopulistischen Tea-Party-Bewegung, sondern ein Stimmenimitator aus Buffalo namens Ian Murphy. Am Hörer hatte dieser aber den echten Walker, und als der falsche Koch vorschlug, bezahlte Quertreiber unter die protestierenden Gewerkschaftsmitglieder zu schicken, sagte Walker, darüber hätten sie schon nachgedacht.

Mittlerweile haben die Demonstranten das Regierungsgebäude längst geräumt. Im vergangenen März hat ein Richter in Wisconsin Walkers Gesetz vorläufig gestoppt.

Die eigentliche Geschichte geht jedoch über die Ereignisse in Wisconsin hinaus. Es handelt sich dabei nicht einfach um das jüngste Scharmützel in Barack Obamas Präsidentschaft, eine Folge der großen Rezession in den USA oder eine neue Runde im amerikanischen Kulturkampf zwischen dem konservativen Kernland und den liberalen Küstenstaaten.

Einen "dreißigjährigen Krieg" nennen es die Politologen Jacob Hacker und Paul Pierson in ihrem wuchtigen, mythenzerstörenden Buch "Winner-Take-All Politics". In diesem Krieg geht es um mehr als den Kulturkampf. Es geht um Geld, Einfluss, Macht. Es geht um eine massive Umverteilung von unten nach oben - von der Mittelklasse zu den Superreichen.

Hacker und Pierson sind auf wissenschaftliche Strenge bedacht. Allen möglichen Einwänden versuchen sie den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ihr Buch ist weder agitatorisch noch schrill. Drastisch sind vielmehr die Zahlen und die in nüchternem Stil aufgedeckten politischen Konstellationen, Machtverhältnisse und Geschäftsmethoden.

Zwischen 1979 und 2005 gingen 20 Prozent aller Einkommenszuwächse in den USA an die 0,1 Prozent der Topverdiener, die 300.000 reichsten Amerikaner. Die unteren 60 Prozent, etwa 180 Millionen Menschen, mussten sich mit 13,5 Prozent begnügen (jeweils nach Steuern). Die kleine Spitzengruppe kommt derzeit auf jährliche Einnahmen von einer Billion Dollar, 7,1 Millionen pro Person. 1974 verdienten sie noch eine Million im Schnitt (die Inflation miteingerechnet). Ihr Anteil am Volkseinkommen betrug damals 2,7 Prozent, heute sind es 12,3 Prozent.

Standarderklärungen sind nur Legenden

Hacker von der Universität Yale und Pierson im kalifornischen Berkeley haben für ihr Zahlenwerk eine Unmenge an Studien und statistischen Erhebungen untersucht. Sie bemühen sich, die Standarderklärungen für die Einkommensunterschiede als Legenden zu entlarven: Die Verweise auf die Globalisierung, die technische Entwicklung oder fehlende Bildungsabschlüsse verlieren unter dem empirischen Brennglas erheblich an Bedeutung für die große Geldverschiebung.

Die Folgen dieser Politik zeigen sich in diesen Tagen in Wisconsin. Im Jahr 2009 verloren die Gewerkschaften in den USA jedes zehnte Mitglied. Zum ersten Mal in der Geschichte sind mehr Gewerkschaftsmitglieder im öffentlichen Dienst als in der Privatwirtschaft tätig. Und genau gegen diese Gruppe richtet sich jetzt der Kampf des politisch-industriellen Komplexes. Auf politischer Ebene ist dies für Hacker und Pierson die immer weiter nach rechts driftende republikanische Partei, allzu oft unterstützt von demokratischen Abweichlern, die der Verlockung nicht widerstehen konnten. Die Verlockung: Das ist das ganz große Geld, das sind die drei Milliarden Dollar, die jährlich von Lobbyisten ausgegeben werden, und das ist nur der offizielle Betrag.

Ende des 19. Jahrhunderts sagte der legendäre Wahlkampfmanager Mark Hanna, es gebe zwei wichtige Dinge in der Politik: "Das erste ist Geld, das zweite habe ich vergessen." Hacker und Pierson vergessen nichts, gehen alle Steuerreformen der vergangenen 30 Jahre durch und geraten dabei immer wieder aufs Neue ins Staunen. Die beträchtlichen Begünstigungen sind so präzise bestimmt, dass sie in ihrer kumulativen Wirkung erst sichtbar werden, wenn man die reichsten Einkommensklassen unter das Mikroskop nimmt: "Es ist, als ob die Regierung eine Wirtschafts- und Steuerpolitik entwickelt hätte, die dem Prinzip der smart bombs folgt, nur dass diese Bomben gefüllt sind mit großen Mengen Geld für ausgewählte Empfänger."

Die Politologen beschreiben, wie Heerscharen von Lobbyisten Gesetzentwürfe abschwächen, blockieren oder gleich ganz zerstören. Es sind Kämpfe, die jenseits der Öffentlichkeit stattfinden. Steuern, Gesundheitsreform, Umweltgesetzgebung - der Teufel steckt in den Details, nur sind es milliardenschwere Details. Im Kampf gegen Gewerkschaften werden noch weitere Methoden sichtbar. So begannen Firmen schon in den siebziger Jahren, Gesetzeslücken zu nutzen, um gewerkschaftliche Zusammenschlüsse zu vermeiden. Die Versuche, Betriebsverfassungsgesetze den veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen anzupassen, wurden seitdem immer wieder blockiert.

Das antiquierte System des Senats - jeder US-Bundesstaat entsendet zwei Mitglieder, ungeachtet der Einwohnerzahl - sorgt dafür, dass schon 17 Prozent der Bevölkerung in der zweiten Kammer des Kongresses die Mehrheit ausmachen können. Noch kleinere Minderheiten sind durch obskure Verfahrensregeln in der Lage, Gesetzentwürfe zu blockieren oder Abstimmungen durch das sogenannte filibuster - endloses Reden - so lange zu verzögern, bis die Lichter ausgehen. Ein Senator las zu diesem Zweck schon einmal aus dem New Yorker Telefonbuch vor.

Hacker und Pierson dokumentieren in unzähligen Varianten das Ende einer Politik des Gemeinwohls, das Unwissen und Desinteresse breiter Wählerschichten, die hemmungslosen Bereicherungstechniken der Lobbyverbände und die Kaltblütigkeit von Politikern. Am Schluss bleibt nicht mehr als die vage Hoffnung, dass die Schieflage schließlich durch politische Entscheidungen herbeigeführt worden sei und deshalb auch wieder verändert werden könne. "Change we can believe in", Veränderung, an die wir glauben können: Darüber soll Barack Obama auch schon nachgedacht haben.

JACOB S. HACKER, PAUL PIERSON: Winner-Take-All Politics. How Washington Made the Rich Richer - And Turned its Back on the Middle Class. Simon and Schuster, New York 2010. 359 Seiten, 27 Dollar.

Lutz Lichtenberger arbeitet für die in englischer Sprache erscheinende deutsche Monatszeitung The Atlantic Times in Berlin.

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