Süddeutsche Zeitung

Das Politische Buch:Wie wird man Terrorist?

Gut ein Jahr nach der Entdeckung des NSU sind bereits einige Bücher zu dem Thema erschienen. Sie beleuchten das geistige, soziale und gesellschaftliche Milieu, in dem der Rechtsterror entstehen konnte. Warum die Terroristen so lange unentdeckt blieben und wer ihre Hintermänner waren, bleibt rätselhaft.

Von Tanjev Schultz

So viel die Ermittler und die Öffentlichkeit mittlerweile über die Neonazi-Killer zu wissen glauben, vieles an der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) bleibt weiterhin ein Rätsel. Die Auswahl der Tatorte und der Opfer, der Abbruch der Mordserie im Jahre 2007 oder das offene Freizeitleben des Trios, das einem Leben im "Untergrund" zu widersprechen scheint: Das Bild vom NSU ist bruchstückhaft. Etliche Bücher sind nun zu dem Thema erschienen: Sie erschließen das geistige und soziale Milieu, in dem der NSU entstanden ist.

Um Terrorismus zu verstehen, dürfe man "nicht nur auf die Terroristen blicken", schreibt der Bochumer Historiker Fabian Lemmes in einer lesenswerten Fallstudie über die Anarchisten des 19. Jahrhunderts. Der Beitrag findet sich in einem Sammelband, der den NSU nur am Rande streift und im Übrigen darlegt, wie wichtig das soziale Umfeld zum Verständnis terroristischer Gruppen ist. In dem Buch der Konfliktforscher Stefan Malthaner und Peter Waldmann finden sich beispielsweise Aufsätze zum radikalen Milieu im antiken Judentum, zur Unterstützer-Szene der RAF oder zu den militanten Salafisten.

Die Beiträge eint die plausible Grundidee, dass Terrorgruppen keine isolierten, "freischwebenden" Zellen sind. Das bedeute freilich nicht, dass das radikale Milieu, aus dem Terroristen heraus agieren, in jedem Falle und in allen Teilen positiv auf Terrorakte reagiert oder diese aktiv unterstützt. Es kann die Terroristen, das zeigen die Beiträge, manchmal sogar bremsen.

Juristisch ist der NSU eine "freischwebende Zelle", soziologisch nicht

Der Generalbundesanwalt stellt den NSU als weitgehend abgekapselte Kleingruppe dar. Sogar von den wenigen mutmaßlichen Helfern ist bisher nicht klar, wie viel sie wirklich vom NSU und dessen Verbrechen wussten. Juristisch scheint der NSU also doch so etwas wie eine "freischwebende" Zelle zu sein. Soziologisch kann und sollte man das anders sehen. Dierk Borstel und Wilhelm Heitmeyer sprechen in ihrem Aufsatz über den Rechtsterrorismus von einem "Zwiebelmuster": Der ideologische und personelle Kern einer militanten Gruppe sei abhängig von den "Lieferungen der radikalisierten Milieus", Terroristen kämen nun einmal nicht aus dem Nichts.

Bleibt dies noch abstrakt und theoretisch distanziert, gelingt es den Journalisten Christian Fuchs und John Goetz (der mitunter auch für die SZ tätig ist), dem NSU-Trio nahezukommen, ohne dabei den sozialen Kontext aus dem Blick zu verlieren. Ihre Monografie "Die Zelle" ist ein spannender Report über das Leben und die Taten von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe, wie sie sich aus unzähligen Akten und der Befragung vieler Weggefährten darstellen. Doch sie ist noch mehr. Eingewoben sind Reminiszenzen an das rassistische geistige Klima, die unselige Asyldebatte und die endemische Neonazi-Gewalt der Neunzigerjahre, in denen das NSU-Trio politisch groß wurde.

Nichts hat sich geändert. Jeder Flüchtling: Ein potenzieller Straftäter.

Wer nun noch einmal liest, wie nicht zuletzt in Thüringen, wo die drei lebten, der Staat vor den Rechtsextremisten zu kapitulieren schien, den erfasst auch im Rückblick der Zorn. Die Schwäche des Staates und die damals bis in die Union reichende Hetze gegen vermeintliche Asylbetrüger können das Trio auf ihrem Weg der Radikalisierung durchaus ermuntert haben.

Und nichts hat sich geändert: Die Fingerabdrücke von Flüchtlingen werden längst schon in der Datenbank Eurodac gespeichert, aber nur für die Zwecke des Asylverfahrens. Künftig - so eine geplante EU-Richtlinie - sollen Sicherheitsbehörden auf Eurodac umfassend zugreifen können. Das heißt: Wo immer eine Straftat verübt wird, kann man als Erstes gucken, ob als Täter ein Asylsuchender infrage kommt. Jeder Flüchtling: ein potenzieller Straftäter.

Es gab, immerhin, die Lichterketten anständiger Bürger. Doch Politik und Behörden bildeten damals keineswegs ein starkes Band im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Das hat unlängst sogar der BKA-Präsident Jörg Ziercke eingeräumt. "Wir hätten uns", sagte Ziercke, "alle gemeinsam bereits Anfang der 1990er-Jahre dafür einsetzen müssen, den gewalttätigen Rechtsextremismus koordinierter und zielgerichteter zu bekämpfen." Das ist eine Einsicht. Aber sie kommt spät - und für viele Opfer zu spät.

Das Buch von Fuchs und Goetz schildert, wie das NSU-Trio vor dem Untertauchen ungerührt von den milden Sanktionen rechtsextreme Rebellion betrieb: wie Uwe Mundlos im Werkunterricht Hakenkreuze in Metallplatten ritzte, wie er gemeinsam mit Beate Zschäpe Geld aus einem Jugendtreff gestohlen haben soll, und ein Jugendrichter Zschäpe später zu Sozialstunden in ebendiesem Club verurteilte. Sie tanzten, so wirkt es, allen auf der Nase herum und machten sich im Kreise ihrer braunen Kameraden als elitäre, besonders provokante Truppe wichtig.

Das Trio lebte in einem ohnehin radikalen Milieu, in dem es nur durch noch mehr Radikalität Aufmerksamkeit erzielen konnte. Für jugendliche Täter ist diese psychologische Komponente kaum zu unterschätzen - der NSU allerdings verzichtete später bis zu seinem Ende darauf, sich öffentlich mit seinen Taten zu brüsten.

"Taten statt Worte" - auf dieses Konzept kamen die Behörden nicht

Das Konzept "Taten statt Worte", dem der NSU folgte, war bei Neonazis schon länger im Gespräch und wurde mitunter auch praktiziert. Doch weder im Bewusstsein der Sicherheitsbehörden noch dem der Öffentlichkeit war das präsent - so wenig wie die internationalen Neonazi-Netzwerke, die lange vor dem NSU ihre Terror-Strategien propagierten.

Die Journalisten Maik Baumgärtner und Marcus Böttcher liefern in ihrem Buch "Das Zwickauer Terror-Trio" einen nützlichen Exkurs zu diesen Netzwerken und folgen im Übrigen der Chronologie der NSU-Verbrechen. Ihr Buch ist ein hilfreicher Überblick, der noch offene Fragen und Unklarheiten nicht verschleiert. Mitunter geben die Autoren allerdings auch windigen Zeugen ein Forum.

Die Publizisten Patrick Gensing ("Terror von rechts") und Olaf Sundermeyer ("Rechter Terror in Deutschland") entfernen sich dagegen in ihren Monografien vom NSU und rücken stattdessen die Geschichte des Rechtsterrorismus und das um ihn gesponnene "braune Netz" ins Zentrum. Gensing schlägt einen Bogen bis zu einer Rede Heinrich Himmlers, in der dieser 1943 sagte, Mord sei eine Notwendigkeit, die nicht in der Öffentlichkeit verhandelt werden sollte. Gensing, der seit Jahren über Rechtsextremisten schreibt, zitiert aus den Songs von Neonazi-Bands und erinnert an die vielen Gewalttäter, deren Überfälle auf Einwanderer seit Jahrzehnten Alltag sind in Deutschland. Der Autor versteht den Rechtsextremismus als eine "soziale Bewegung", wobei nicht ganz klar wird, was damit analytisch gewonnen ist.

Gensing, so viel wird deutlich, mag nicht glauben, dass der NSU als isolierte Gruppe agierte. Er vermutet offenbar ein größeres Unterstützer-Netzwerk, dessen Ausmaße bisher nur noch nicht richtig erfasst worden sind. Denkbar ist das, aber bisher fehlen dafür juristisch belastbare Belege. Und die soziologische Einsicht, dass Terrorgruppen ohne soziales Umfeld nicht vorstellbar sind, bedeutet ja keineswegs, dass sich eine Zelle nicht im Lauf ihrer Entwicklung lösen kann von allen Strukturen, die ihre Existenz gefährden (= die Polizei auf ihre Spur bringen könnten).

Nicht nur die Behörden, auch kenntnisreiche Reporter haben all die Jahre keinen Verdacht geschöpft. Wäre das möglich gewesen, wenn der NSU beim Planen seiner Taten weiter mit bekannten Szene-Größen kooperiert hätte? Wie die Antwort auch ausfällt, die verschiedenen Schichten der Zwiebel aufzublättern, die den NSU umgeben, ist in jedem Falle notwendig.

Olaf Sundermeyer geht zurück bis zur Wehrsportgruppe Hoffmann

Ohne die braunen Kameradschaften, die wiederum mit der NPD verbunden waren und sind, hätte die Zwickauer Zelle auf keinen Resonanzboden hoffen können. In einem Kapitel zeigt Gensing, wie Rechtsextremisten die "sächsische Demokratie" vor sich hertreiben und Antifa-Gruppen unter der Repression des Staates leiden.

Olaf Sundermeyer wiederum befasst sich mit den Konjunkturen des rechten Terrors in der Bundesrepublik. Er präsentiert nicht nur eine bedrückend ausführliche Chronologie der Anschläge seit den Neunzigerjahren. Er geht auch zurück zu den Tätern früherer Jahrzehnte: zur Wehrsportgruppe Hoffmann und der Hepp-Kexel-Bande. Diese Namen sind weit weniger bekannt als die der linken Terroristen der RAF oder der "Bewegung 2. Juni".

Am ehesten in böser Erinnerung ist vielen das Oktoberfest-Attentat von 1980, bei dem 13 Menschen starben, darunter der mutmaßliche rechtsextreme Täter. Die organisierten Strukturen des rechten Terrors, die Wehrsportgruppen oder das im Jahr 2000 in Deutschland verbotene Netzwerk "Blood & Honour" blieben dagegen eher ein Thema für Fachleute. Und wer erinnert sich an Odfried Hepp? Er verübte Anfang der Achtzigerjahre gemeinsam mit einer Handvoll anderer Rechtsextremisten Bombenanschläge. Die Bande überfiel außerdem Banken.

Sundermeyer hat Odfried Hepp, Jahrgang 1958, für das Buch besucht. Er beschreibt ihn als "unscheinbaren, freundlichen Mann", der leise spricht. Sie hätten sich als "100-prozentige Nationalsozialisten" verstanden, sagt Hepp. Die Bande plante damals, den Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß aus dem Gefängnis in Berlin-Spandau zu befreien. Weil sich die Gruppe zerstritten hatte, kam es jedoch nicht dazu.

Unweigerlich schweifen die Gedanken bei Hepps Offenbarungen wieder zum NSU. Dessen Protagonisten können oder wollen nicht reden. Zwei NSU-Mitglieder - Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - sind tot. Ihre mutmaßliche Komplizin Beate Zschäpe, die sich voraussichtlich von Frühjahr an in München vor Gericht verantworten muss, schweigt bisher zu allen Vorwürfen. Ihre Geschichte liegt erst in Umrissen vor. Der Gerichtsprozess wird hoffentlich dazu beitragen, mehr über den NSU zu erfahren - und auch über das radikale Milieu, in dem die Ideologie und der Terror des NSU heranreiften.

Stefan Malthaner, Peter Waldmann (Hg.): Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen. Campus Verlag, Frankfurt 2012. 390 Seiten, 34,90 Euro.

Christian Fuchs, John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland. Rowohlt, Reinbek 2012. 267 Seiten, 14,95 Euro.

Maik Baumgärtner, Marcus Böttcher: Das Zwickauer Terror-Trio. Ereignisse, Szene, Hintergründe. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012. 255 Seiten, 14,95 Euro.

Patrick Gensing: Terror von rechts. Die Nazi-Morde und das Versagen der Politik. Rotbuch Verlag, Berlin 2012. 236 Seiten, 14,95 Euro.

Olaf Sundermeyer: Rechter Terror in Deutschland. C.H. Beck, München 2012. 271 Seiten, 16,95 Euro.

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Quelle:
SZ vom 18.12.2012
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