Das Politikum des Wiesnanstichs:Stadttheater statt Staatsoper

Beim Anstich im Schottenhamel trifft traditionell der Münchner Oberbürgermeister auf den bayerischen Ministerpräsidenten - den Politikern geht es um die Frage: Wer ist wichtig?

Wolfgang Görl

Nimmt man das Tamtam in den Medien als Gradmesser, dann sind die Salvatorprobe auf dem Nockherberg und der Anstich des ersten Wiesnbierfasses die wichtigsten politischen Termine in Bayern. Hier wie dort kloppen sich die Fotografen um die besten Plätze, Zeitungen und Agenturen entsenden Sonderreporter, und das Fernsehen berichtet live.

176. Oktoberfest

O'zapft is: Auf der Wiesn hat der Oberbürgermeister das Sagen, der Ministerpräsident wird zur Randfigur - vor allem seitdem er nicht mehr Edmund Stoiber heißt. Ein Machtspiel im Blitzlichtgewitter.

(Foto: ddp)

Wenn der Salvatorprediger, wie in diesem Jahr, zu frech ist, gerät der Fall zur Staatsaffäre, bei der sich sogar der Außenminister zum Eingreifen bemüßigt fühlt; und die Frage, wie viele Schläge der Münchner Oberbürgermeister beim Anzapfen im Schottenhamel-Zelt benötigt, wird vor und nach dem Ereignis mit einer Hingabe diskutiert, als stünde das Wohl des Landes auf dem Spiel. Atomkraft und Hartz IV mögen wichtige Themen sein, aber richtig ernst wird es in Bayern erst, wenn's ums Bier geht.

Zwischen Salvatorprobe und Oktoberfest gibt es aber auch Unterschiede, die dem ausgeprägten Gespür der Münchner für die Balance of Power zu verdanken sind. Auf dem Nockherberg gebührt dem Ministerpräsidenten der erste Schluck, während der Oberbürgermeister zum Zuschauen und Warten verurteilt ist - auf der Wiesn ist es umgekehrt. Trotzdem hat es sich seit Franz Josef Strauß - der 1988 allerdings dem Korbmarkt in Lichtenfels den Vorzug gab - eingebürgert, dass der Ministerpräsident wenigstens als Statist dem Anzapfen beim Schottenhamel beiwohnt.

Solange in München die SPD am Ruder ist, wird sich der Chef der Staatsregierung mit dieser Nebenrolle begnügen müssen - es sei denn, ein Sozialdemokrat würde Ministerpräsident. Aber das ist so wahrscheinlich wie eine Verlegung des Oktoberfests nach Lichtenfels.

Wie genau die Stadt darauf achtet, den Landesherrn auf der Wiesn klein zu halten, zeigte sich mal wieder im vergangenen Mai. Damals machte die unerhörte Nachricht die Runde, Ministerpräsident Horst Seehofer beabsichtige auf Wunsch der Festwirte, das Jubiläums-Standkonzert der Wiesnkapellen zu dirigieren.

Im Rathaus klingelten sofort die Alarmglocken, und als mutigster Verteidiger der städtischen Hoheitsrechte profilierte sich Wiesn-Stadtrat Helmut Schmid (natürlich SPD), der dem Ministerpräsidenten ins Stammbuch schrieb: "Das Oktoberfest ist eine Münchner Veranstaltung und nicht eine des Landes." Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis man der Staatsregierung das Königszelt zur Verfügung stellt, in dem einst die Wittelsbacher auf der Theresienwiese Hof hielten.

Zur Zweisamkeit verdammt

Während der Ministerpräsident beim Anzapfen nur dumm daneben steht, kann er beim anschließenden Umtrunk in der Ratsbox Boden gutmachen. Hier, auf der Schottenhamel-Empore, ein paar Meter über den Köpfen des Fußvolks, kommt es sozusagen zum Showdown zwischen dem Stadtherrn und dem Landesherrn. Oberbürgermeister und Ministerpräsident sitzen sich Aug' in Aug' gegenüber, daneben die Gattinnen im Dirndl, sofern der Regierungschef nicht aus Franken stammt.

Mit Grausen erinnern sich Wiesn-Traditionalisten an den diplomatischen Fauxpas der Ministerpräsidentengattin Marga Beckstein, die im Jahr 2008 die Einheit Bayerns aufs Spiel setzte, weil sie, die Fränkin, sich weigerte, mit einem oberbayerischen Dirndl in der Ratsbox zu erscheinen. Möglicherweise ist der Niedergang Becksteins durch die unter dem Titel "Dirndl-Gate" leidenschaftliche diskutierte Affäre wesentlich beschleunigt worden.

Das Tête-à-tête zwischen Oberbürgermeister und Ministerpräsidenten hatte seine Höhepunkte in der Ära Stoiber. Da saßen sich auf der Empore zwei Männer gegenüber, die das Schicksal zu einer ähnlich ungemütlichen Zweisamkeit verdammt hatte wie die Herren Müller-Lüdenscheidt und Doktor Klöbner in Loriots Badewannen-Sketch.

Hier Edmund Stoiber mit der würdevollen Miene eines Staatsmannes, der gerade seine Entlassungsurkunde entgegennimmt, dort der seit Menschengedenken amtierende Oberbürgermeister Christian Ude, dessen demonstrative Munterkeit nicht den Eindruck zu verwischen vermochte, er könne sich Unterhaltsameres vorstellen, als mit diesem blonden Herrn im Trachtenjanker zwei Stunden lang die Badewanne respektive den Ehrenplatz in der Ratsbox zu teilen. Beide sahen so aus, als wollten sie schleunigst raus - Ude aus seiner Lederhose und Stoiber aus dem Bierzelt.

Durchgehalten haben sie dann doch, wohl wissend, dass es beim Volk ganz schlecht ankommt, wenn ein bayerischer Politiker vorzeitig ein Bierzelt verlässt. Gelegentlich unterbrachen Stoiber und Ude ihre staatspolitische Unterredung, um sich Maßkrug schwenkend einem Popularitätstest zu unterziehen.

Dabei ist zu berücksichtigen, dass am Eröffnungstag eine CSU-nahe Jeunesse dorée das Schottenhamel-Zelt dominiert, weshalb der bayerische Regierungschef, der ja von Natur aus ein Christsozialer ist, Heimvorteil genießt. Ovationen für Stoiber, Pfiffe für Ude - das war eine Zeitlang die Regel. In der Endphase der Ära Stoiber ließ die Begeisterung für den Beinahe-Kanzler hörbar nach, wohingegen Ude Beifall von Menschen erhielt, die die SPD nicht mal im Vollrausch wählen würden. Spätestens da wusste man: Mit Stoiber geht es bergab.

Nie ohne Pfeifkonzert

In der Folgezeit hielt sich auch beim Nachfolger Beckstein der Jubel in Grenzen, und so wartete man 2009 gespannt, wie sich der neue Ministerpräsident Seehofer schlagen würde. Alles in allem fiel die Premiere zufriedenstellend aus, wenngleich Seehofer bei weitem nicht so heftige Beifallsstürme auslöste wie Stoiber in seiner Glanzzeit.

Dessen ungeachtet, war Seehofer derart enthusiasmiert, dass er sich zu der Bemerkung hinreißen ließ, das Oktoberfest sei ihm lieber als "zwei Kabinettssitzungen mit der FDP" - ein Befund, den jeder nachvollziehen konnte.

Da aber ein Wiesn-Auftakt ohne Pfeifkonzert nur halb so lustig wäre, konzentrierten sich die Missfallensbekundungen auf die Grünen-Chefin Claudia Roth, die seit Jahren ein Blickfang in der Ratsbox ist, weil ihre Dirndl offenbar nach dem Vorbild der Fassadenfiguren des Teufelsrads geschneidert sind. Überhaupt ist der Grünen-Stammtisch, wenn es nicht gerade Pfiffe gibt, ein Hort der guten Laune, wohingegen der Stimmungspegel bei der SPD meist nur so hoch ist wie ihre bayerischen Wahlergebnisse.

Schmerzlich vermisst wurde zuletzt der Stammtisch des CSU-Solisten Peter Gauweiler, der mit einigen Parteispezln die Zeit bis zum Anstich mit dem Genuss von Radi, Würsten und Mineralwasser aus dem eigenen Brotzeitkorb überbrückte. Man sagt, der schwarze Peter sei in ein anderes Zelt abgewandert, und das wäre wirklich schade.

Die Gauweiler-Runde erinnerte stets an eine Lausbubenbande, die, obgleich in die Jahre gekommen, noch immer für einen Streich gut ist. Man wäre nicht überrascht gewesen, hätte einer von ihnen dem Ministerpräsidenten heimlich Apfelsaft ins Bier geschüttet. Um keine Märchen zu verbreiten: Dies ist nie geschehen. Jedenfalls nicht bei Seehofer und Beckstein. Und Stoiber wäre es nicht aufgefallen.

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