Süddeutsche Zeitung

Anschläge in Norwegen:Wie Breivik sein wirres Weltbild ersponnen hat

Akribisch hat Anders Behring Breivik über Jahre nach passenden Mosaiksteinchen gesucht, um seine abstruse Vorstellung von einer islamischen Verschwörung gegen die "eingeborenen Europäer" zu untermauern. Am Ende war er überzeugt, er müsste sich zur Speerspitze einer europaweiten bewaffneten Widerstandsbewegung machen. Die Schuld an seinem Verbrechen gibt er den Opfern selbst.

Markus C. Schulte von Drach

George Armstrong Custer ist jener berühmt-berüchtigte General der 7. US-Kavallerie, der 1876 die Sioux des Häuptlings Sitting Bull am Little Big Horn vernichten wollte. Bekanntlich wurde der brutale General von den Indianern geschlagen und getötet - es war der größte Sieg der indianischen Bevölkerung gegen das US-Militär.

Wohl niemand würde auf die Idee kommen, diesen US-General mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zu vergleichen. Niemand - bis auf Anders Behring Breivik. Der norwegische Massenmörder versucht, auf diese Weise zu veranschaulichen, wen er als Gegner betrachtet, und wie er sich selbst sieht: als Kämpfer im Namen der Rechte der "eingeborenen Europäer".

Nicht nur Merkel, sondern etliche wichtige europäische Politiker, darunter der französische Präsident Nicolas Sarkozy, Romano Prodi, früherer Präsident der Europäischen Kommission aus Italien, Spaniens Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero und Großbritanniens Ex-Premier Tony Blair listet der norwegische Massenmörder als die "imperialistischen Custers" unserer Zeit auf. Und Breivik selbst sowie alle, die seiner Meinung nach jetzt zu den Waffen greifen sollen, seien "genauso wenig Terroristen wie Sitting Bull, Crazy Horse oder Chief Gall, die für das Recht ihrer Leute kämpften".

Wie aber kommt er darauf, zu den Waffen zu rufen? Aus Sicht des Mörders ist es die Reaktion auf eine gigantische Verschwörung mit dem Ziel einer islamischen Kolonisation und Islamisierung Westeuropas mit Hilfe der Europäischen Union.

Über die Jahre hat sich Breivik offenbar so tief in diese Vorstellung verrannt, dass er schließlich selbst bereit war, einen Massenmord zu begehen. Der Anschlag in Oslo und das Massaker an Teilnehmern eines sozialdemokratischen Jugendlagers auf der Insel Utøya richtete sich seiner Vorstellung nach gegen Vertreter einer Partei, die den Verschwörern zuarbeitet.

Tief hat sich der Mörder von 76 Menschen in die Geschichte Europas gegraben, sich mit Politik und Religion beschäftigt, um seine Verschwörungstheorie zu entwickeln. Dabei hat er offensichtlich bei Hunderten Quellen akribisch nach allen Mosaiksteinchen gesucht, die sein archaisches, reaktionäres, antiislamisches Weltbild zu stützen scheinen - ein Weltbild, in dem "Damen Ehefrauen und Hausfrauen sein sollten, nicht Polizistinnen und Soldaten", Kinder nicht außerhalb der Ehe geboren und "Homosexualität nicht verherrlicht" werden sollten, fordert er.

Um seine Position zu untermauern, hat Breivik in seinem 1500 Seiten umfassenden Manifest Zitate um Zitate aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen. Er reiht Zahlen und Daten aneinander in einem endlosen Strom von einseitigen Argumenten. Auf die Belagerung Wiens durch die Türken im 17. Jahrhundert und den türkischen Genozid an den Armeniern Anfang des 20. Jahrunderts bezieht er sich genauso wie auf den Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien und den Libanon. Menschen wie Radovan Karadzic seien keine Kriegsverbrecher und die Kreuzzüge keine Eroberungskämpfe gewesen. Dass etwas anderes behauptet wird, dient in seiner Vorstellung dazu, die Geschichte zu fälschen, um das Projekt Eurabia zu unterstützen. Dieses habe das Ziel, die EU auf die arabische Welt auszuweiten und Europa selbst nach und nach zu islamisieren - und finde unter "aktiver Beteiligung europäischer Führer" statt. Deshalb, so sein Schluss, müsse die EU zerstört werden. Und da die Vereinten Nationen von Persönlichkeiten mit entsprechender Gesinnung dominiert würden, müssten die UN "boykottiert" werden.

Dass viele Menschen von dieser Verschwörung noch nichts mitbekommen haben, hängt Breivik zufolge schlicht und einfach damit zusammen, dass "die Regierungen und die politisch korrekten Mainstream-Medien dies vor den Menschen in Europa bewusst verborgen halten". 85 bis 90 Prozent der europäischen Politiker sowie mehr als 95 Prozent der Journalisten, so ist Breivik überzeugt, seien Anhänger des europäischen Multikulturalismus und somit Anhänger der voranschreitenden Islamisierung Europas. Eine solche Behauptung ist typisch für Verschwörungstheoretiker: Wer nicht der gleichen Meinung ist, wird als manipuliert abgestempelt.

Typisch ist auch, dass Breivik alle Gegenargumente im Vorhinein zurückweist mit einem George-Orwell-Zitat: "Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit."

Gerade der Multikulturalismus aber hängt ihm zufolge mit einem kulturellen Marxismus zusammen - und dieser wiederum zeigt sich in der "political correctness", die sich in den vergangenen 50 Jahren ausgebreitet hat. Für den norwegischen Massenmörder hat die Verschwörung, gegen die er zu kämpfen meint, deshalb ihre Wurzeln auch in Deutschland.

Von dort aus hätten Wissenschaftler der sogenannten Frankfurter Schule, einer Gruppe von Wissenschaftlern wie Erich Fromm, Theodor Adorno und Herbert Marcuse, unter dem Deckmantel der Menschlichkeit daran gearbeitet, die europäische Identität, Tradition, Kultur und sogar die Nationalstaaten abzubauen. Und obwohl Angela Merkel Breivik zufolge noch "die am wenigsten schlechte Führerin der größeren Nationen" Europas sei, müsse sie von ihrem Posten entfernt werden.

Danach sieht es dem Norweger zufolge aber vorerst nicht aus, denn die politische Korrektheit, die es den Menschen verbieten würde, zu sagen, was sie denken, "hat beide politische Flügel, links und rechts, übernommen". Als Beleg führt er unter anderem das Verbot einer antiislamischen Demonstration in Köln 2008 an: "Das war ein schändlicher Akt der Feigheit und Beschwichtigungspolitik der Nazis unserer Zeit."

Überhaupt verfüge Deutschland "über keine einzige Partei mit einer kulturell konservativen/antiislamischen Haltung", klagt Breivik. Vielmehr betrachtet er sie alle als "kulturelle Marxisten / selbstmörderische Humanisten / kapitalistische Globalisten". Ähnlich sieht es seiner Meinung nach auch in den anderen europäischen Ländern aus. Und während er schließlich verkündet, er habe nichts gegen einzelne Muslime, versteigt er sich zu einem pathetischen Aufruf zum bewaffneten Kampf im Namen einer "Pan-Europäischen Patriotischen Widerstandsbewegung".

"Bewaffneter Kampf ist der einzige vernünftige Weg", verkündet der selbsternannte Kommandeur der Tempelritter Europas, der sich selbst als toleranten und sensiblen Menschen charakterisiert. "Wir, die freien, unabhängigen Menschen Europas, erklären hiermit allen kultur-marxistischen und multikulturistischen Eliten Westeuropas den Präventivkrieg", schreibt Breivik. Später bezeichnet er diese Eliten, zu denen auch die politischen Führer wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy gehören, als "Marionetten und Werkzeuge der islamischen Weltgemeinschaft", und droht: "Wir wissen, wer ihr seid, wo ihr wohnt und wir werden euch kriegen. Wenn nicht heute, dann morgen, wenn nicht in zehn Jahren, dann in 50 Jahren."

Bis 2083 sei der Krieg gewonnen, prophezeit er. Und dann schiebt der Massenmörder seinen Opfern auch noch die Schuld an seinem Verbrechen zu: "Wir wollten das nicht, aber wir haben keine Wahl mehr."

Was Anders Behring Breivik motiviert hat, sich selbst zum Vertreter einer angeblichen Mehrheit der Europäer aufzuschwingen, ist unklar. Breiviks "Wir" gibt es nur in seiner Phantasie. Vieles spricht allerdings dafür, dass er sich bestätigt und bestärkt fühlte durch die antiislamische Hetze, den Rassismus und den Nationalismus diverser Parteien, Organisationen und Gruppierungen in Europa. Was noch dahintersteckt, werden weitere Untersuchungen der Ermittler, Gerichte - und Psychiater - zeigen.

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