Ja, Ulla Schmidt hat einen unverzeihlichen Fehler begangen. Sie hat sich ihren Dienstwagen an den Urlaubsort bringen lassen und danach gesagt, dass ihr dies den einschlägigen Vorschriften zufolge "zustehe".
Diese maximale Ungeschicklichkeit - schlimmer als ein Verbrechen, eben ein Fehler - hat ihr die Hüter öffentlicher Moral von Bild bis Plasberg auf die Fersen geheftet. Zwar konnte der Ministerin bisher kein Verstoß gegen jene Vorschriften nachgewiesen werden; trotzdem wird allerseits daran gezweifelt, dass sie noch zu halten sei.
Den Wahlkampf der SPD hat der Vorgang jedenfalls schwer verhagelt. Der Kanzlerkandidat Steinmeier hängt in einer Korrektheitsfalle fest: Wenn er Frau Schmidt verabschiedet, bestätigt er die Vorwürfe, hält er an ihr fest, macht er sich den Amtsübermut einer Ministerin zu eigen, die, wie es jetzt heißt, Bodenhaftung und Fingerspitzengefühl vermissen lasse und Dinge tue, "die man den Leuten nicht erklären kann".
Gespenstische Folgerungen
Warum eigentlich nicht? Warum ist es so schwer zu erklären, dass es Regularien für den Gebrauch von Dienstwagen gibt, die eine abzurechnende private Nutzung erlauben? Werden in Deutschland denn nicht auch an anderen Stellen Dienstwagen verwendet, mit analogen, überall zu klärenden Abwägungen? Die Gedankenfigur vom fehlenden "Fingerspitzengefühl", das sich jenseits solcher legalen Festlegungen bewähren muss, führt, wenn man ihre Konsequenzen bedenkt, zu gespenstischen Folgerungen.
Denn sie bedeutet: Legalität genügt nicht, vom Politiker darf immer noch mehr erwartet werden, nämlich eine höhere Moralität. Es ist diese Gedankenfigur und ihre öffentlichen Auswirkungen, die den Fall Ulla Schmidt zu einem Warnzeichen machen. Denn damit ist ein "regressus ad infinitum" eröffnet, eine unabschließbare Kette von moralischen Forderungen, die sich nie einholen lassen.
Denn natürlich könnte man die Bestimmungen zum Dienstwagengebrauch anpassen und verschärfen. Aber danach kann schon die nächste Forderung zu erhöhter Zurückhaltung an die Politiker erhoben werden. Legalität ist begrenzt und halbwegs nachprüfbar; Moralität aber ist potentiell unendlich, sie lässt sich immer noch übertreffen.
Hart, aber fair
In der nie zu schließenden Lücke zwischen Legalität und Moralität aber kann sich eine merkwürdige Koalition öffentlicher Meinungsmacher betätigen, die vom linksliberalen Leitartikel über die Bild-Zeitung bis zu Frank Plasberg reicht. Hier ist der logische Ort, wo Politik auf Stimmungsmache trifft, und hart, aber fair die niedrigen Instinkte von Ahnungslosen bedient werden können. Wie zerstörerisch diese Form des kostenlosen Moralmobbings wirkt, zeigt sich bei jeder Erhöhung der Diäten für deutsche Parlamentarier, die zuverlässig vom balkendicken Aufschreien der Fachblätter für Anstand begleitet wird und dann oft gar nicht mehr durchsetzbar ist.
Den auch geistig Armen, an die sich solche Moral wendet, wird suggeriert, Politik werde in diesem Land vor allem der hohen Bezahlung und materieller Vergünstigungen wegen betrieben. Dass deutsche Politiker gemessen an dem 24-Stunden-Einsatz, den sie leisten müssen, gemessen übrigens auch an der ihnen abverlangten schier grenzenlosen Bereitschaft, sich öffentlich dumm anreden und demütigen zu lassen, und im Vergleich auch zu Führungspositionen der Wirtschaft eher lächerlich bezahlt werden, das ist es eigentlich, was dem moralischen Boulevardpublikum "nicht erklärt werden kann". Denn diese Sphäre des angeblich Unerklärbaren sichert den Moralmobbern ihre mediale Macht.
Für die Demokratie ist diese Aufspaltung in eine Legalität, die nicht reicht, und eine nie einzuholende Moralität fatal, tendenziell zerstörerisch. Sie läuft darauf hinaus, dass nicht mehr die Kontrollinstanzen des Parlaments oder auch die Rechnungshöfe entscheiden, wer ministrabel ist, sondern eine selbst unbelangbare Gruppe von Meinungsmachern, deren Affekte und Interessen mal in diese, mal in jene Richtung gehen können.
Eigenschaften von Menschen wie du
Es ist in Deutschland leichter, ein öffentliches Amt wegen überzogenen Dienstwagengebrauchs oder falsch verbuchten Flugmeilen zu verlieren als für Parteispendenaffären oder gar desaströse Politik. Denn Dienstwagen und Flugmeilen lassen sich persönlicher Gier zurechnen, also den miesen Eigenschaften von Menschen wie du.
Schon die Parteispende wird ja für einen mehr als privaten Zweck verwendet und falsche Politik muss ohnehin nach ganz anderen Kriterien beurteilt werden. So befestigt das Moralmobbing ein Bild von Berufspolitik, das grotesk an den realen Bedingungen vorbeigeht, unter denen sie heute ausgeübt werden muss. Wie viele Dienstreisen werden vom Minister persönlich organisiert? Hat er nichts Besseres zu tun? Das wollen wir doch nicht hoffen.
Die Dauerunterstellung des trivialsten Motivs - als würde man dicker Dienstwagen wegen zum Politiker - etabliert am Ende ein Bild vom Politiker, das tatsächlich einmal Wirklichkeit werden könnte. Die Verbindung von unbelangbarer Stimmungsmacht mit Politikerverachtung ist der Mix, auf dem die Berlusconisierung des politischen Betriebs vorstellbar wird. Wenn grundsätzlich das niedrigste materielle Motiv unterstellt wird, wenn politischer Anstand vornehmlich in den Schmuddelformaten der Massenmedien überprüft wird, dann verlieren die Maßstäbe irgendwann jegliche Glaubwürdigkeit.
Freilich wird es bei fortgeschrittener Berlusconisierung im Kräftefeld von Medien und Trivialmoral natürlich nicht mehr um Peanuts wie Dienstwagen im Urlaub gehen, sondern um Interessenverflechtungen, die sich nicht mehr in den Kurzfilmchen abbilden lassen, wie sie bei Plasberg eingespielt werden. Die Trivialisierung des Bühnenvordergrunds bietet auf Dauer einen vorzüglichen Paravent für die großen Deals im Hintergrund.
Italia docet: Nicht Interessenverflechtungen und Rechtsbeugungen haben dem italienischen Ministerpräsidenten letzthin negative Kommentare eingetragen, sondern Fotos von leicht bekleideten Mädchen. Damit aber kann er, wie sich zeigt, bestens leben.
Berlusconi bietet das Beispiel einer entpolitisierten Politik, in der tatsächlich das persönliche materielle Motiv regiert, der Staat also zur Umwelt eines Wirtschaftsimperiums degradiert wird. In Italien ist die eigentliche Währung des politischen Systems, die Ausübung von Macht, in den Dienst ökonomischer Interessen getreten. Auch in Deutschland wird Politik natürlich nicht aus uneigennützigen Motiven betrieben. Aber hier gilt noch halbwegs die Trennung der Sphären, was bedeutet: Die Gratifikationen, die ein beispiellos hartes Berufsleben den Politikern bietet, sind eben nicht in erster Linie hohe Gehälter und dicke Autos, sondern Geltung und Macht.
Das geläufige moralische Mobbing ist so töricht, weil es diese in jeder modernen Gesellschaft unvermeidliche und am Ende heilsame Autonomie der politischen Sphäre verleugnet. Mit Politikverachtung aber lässt sich eine Demokratie auf Dauer nicht bewahren. Soweit wir bisher wissen, bestand der Fehler von Ulla Schmidt nicht in inkorrektem Dienstwagengebrauch, sondern in ihrer mangelnden Bereitschaft, sich den öffentlichen Reflexen anzupassen. Andere, Biegsamere, stehen aber natürlich jederzeit bereit.