Eklat um Dalai Lama:"Zutiefst verstörend"
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Der Dalai Lama fordert ein Kind auf, seine "Zunge zu lutschen" - und entschuldigt sich nach einem Shitstorm: Er "necke" eben gerne. Missbrauchsbetroffene kritisieren das als Verharmlosung.
Von Annette Zoch
Ein kleiner Junge im gelben Hemd steht oder sitzt vor dem Dalai Lama, dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter. Dann nimmt Tenzin Gyatso, wie der Dalai Lama bürgerlich heißt, das Kinn des Jungen, führt es zu seinem Gesicht und gibt ihm einen Kuss auf den Mund. Anschließend fragt der Dalai Lama: "Kannst du an meiner Zunge lutschen?" und streckt dem Kind die Zunge raus. Begleitet ist die Szene vom Gelächter der Umstehenden, einer macht Handyfotos.
Dieser kurze Videoclip kursiert seit dem Wochenende im Internet und hat weltweit scharfe Kritik ausgelöst. Aufgenommen wurde die Szene Medienberichten zufolge im Februar in Dharamsala im Norden Indiens, wo der Dalai Lama im Exil lebt. Der kleine Junge habe ihn zuvor gefragt, ob er ihn umarmen könne, dies ist in dem Video allerdings nicht zu sehen.
Via Twitter ließ der Dalai Lama mitteilen, er bedauere den Vorfall: "Seine Heiligkeit möchte sich bei dem Jungen und seiner Familie wie auch bei seinen vielen Freunden rund um die Welt für den Schmerz entschuldigen, den seine Worte verursacht haben könnten." Weiter hieß es in dem Tweet: "Seine Heiligkeit neckt oft Leute, die er trifft, auf eine unschuldige und verspielte Art, sogar in der Öffentlichkeit und vor Kameras."
Diese Entschuldigung allerdings genüge nicht, sagen Missbrauchsbetroffene: Der Dalai Lama spiele den Vorfall herunter, teilte die Gruppe SNAP mit. Die Abkürzung steht für Survivors Network of those Abused by Priests, zu Deutsch: Netzwerk der Überlebenden von Missbrauch durch Priester. "Wir wüssten gerne, zu wie vielen anderen solcher ,verspielter' Aktionen es in der Vergangenheit zwischen dem Dalai Lama und ahnungslosen Besuchern gekommen ist", heißt es in der Stellungnahme weiter.
Es sei "zutiefst verstörend" zu sehen, wie ein 87-jähriger Mann von einem kleinen Jungen verlangt, öffentlich einen solch "offensichtlich sexuellen Akt" auszuführen. SNAP ist die älteste Unterstützungsgruppe für Menschen, die im religiösen Kontext missbraucht wurden. Sie wurde 1989 in den USA von Opfern katholischer Priester gegründet.
"Man stelle sich vor, das hätte ein Bischof gemacht"
"Der Dalai Lama hat da eindeutig eine Grenze überschritten", sagt Agnes Wich. Sie ist Mitglied in der deutschen Betroffenen-Organisation "Eckiger Tisch" und arbeitet mit dem "Brave Movement" zusammen, einer internationalen Betroffenen-Organisation. "Man stelle sich vor, das hätte ein Bischof auf öffentlicher Bühne gemacht. Die Körpersprache des Jungen ist ja eindeutig, wie er zurückweicht."
Der Vorsitzende der Deutschen Buddhistischen Union, Nils Clausen, sagte auf SZ-Anfrage, inwieweit gegebenenfalls tibetische Gepflogenheiten eine Rolle gespielt hätten, sei momentan nicht bekannt. "Dieser Vorfall erinnert uns daran, dass auch der Dalai Lama nur ein Mensch ist und als solcher Fehler machen kann. Zugleich ändern sich die Welt, unsere Gebräuche und ethischen Vorstellungen derart schnell, dass manches Verhalten erst als falsch erkannt wird, wenn es bereits zu spät ist", so Clausen.
Weiterhin verwies die DBU auf eine ältere Stellungnahme aus dem September. Damals war auf Arte eine mehrteilige Fernseh-Dokumentation zu Missbrauch in buddhistischen Gemeinschaften erschienen. "Der Vorstand und der Rat der Deutschen Buddhistischen Union drücken allen Opfern sexualisierter Gewalt ihr tiefes Mitgefühl aus", schrieb die DBU damals. Es habe sexualisierte Gewalt in buddhistischen Gemeinschaften gegeben, und diese seien teils jahrzehntelang gedeckt worden.
In einigen buddhistischen Gemeinschaften mangele es an verlässlichen Strukturen, um Missbrauch ansprechen und einschränken zu können. Die DBU sei sich dessen bewusst und habe deshalb für ihre Mitgliedsorganisationen eine "Freiwillige Ethische Selbsterklärung" verabschiedet sowie Vertrauenspersonen benannt.
Missbrauchsvorwürfe gegen buddhistische Führer sind nicht neu. Bereits in den 1990er-Jahren erhoben Frauen Vorwürfe gegen den mittlerweile verstorbenen Sogyal Lakar Rinpoche, einen engen Vertrauten des Dalai Lama. Sogyal tat diese Vorfälle stets als haltlose Beschuldigungen Einzelner ab. Im August 2017 berichtete die Süddeutsche Zeitung dann allerdings von einem offenen Brief von acht langjährigen Schülern Sogyals. Im August 2017 erklärte er seinen Rücktritt als spiritueller Lehrer, er starb 2019 in Thailand.