Dänemark:Unzulängliche Psychiatrie

Dänemark: Gegenseitiger Trost bei einer Gedenkfeier in Kopenhagen.

Gegenseitiger Trost bei einer Gedenkfeier in Kopenhagen.

(Foto: Sergei Grits/dpa)

Nach dem tödlichen Anschlag von Kopenhagen gerät die Regierung unter Druck: Sie war mit dem Versprechen angetreten, die Psychiatrie zu reformieren. Der Plan verschwand offenbar in der Schublade.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Nach der tödlichen Schießerei in einem Einkaufszentrum in Kopenhagen vor einer Woche ist die dänische Regierung unter Druck geraten. Angesichts der offenbar aus der Vergangenheit aktenkundigen psychischen Probleme des mutmaßlichen Täters stehen nun die Zustände in der dänischen Psychiatrie im Fokus. Die Sozialdemokraten von Ministerpräsidentin Mette Frederiksen waren 2019 angetreten mit dem Versprechen, die Psychiatrie zu reformieren. "Und passiert ist in dreieinhalb Jahren exakt: nichts", schrieb die Zeitung Politiken. Das sei nicht weniger als ein "gigantisches Versagen" der Regierung. Dänische Psychiater und andere Parteien kritisierten die Sozialdemokraten scharf. Gesundheitsminister Magnus Heunicke versprach Ende letzter Woche nun schnellstmögliche Verhandlungen über einen möglichen Reformplan.

Noch ist aus den Vernehmungen des festgenommenen 22-jährigen Dänen nichts öffentlich geworden. Allerdings war früh bekannt geworden, dass er in der Vergangenheit Kontakt mit psychiatrischen Kliniken gehabt hatte. In einem vom Täter selbst am Tag vor der Schießerei auf Youtube hochgeladenen Videos beklagt er das Versagen eines gegen psychotische Störungen verschriebenen Medikaments. Kurz vor der Tat hatte er offenbar vergeblich versucht, eine Notfall-Hotline zu kontaktieren. Die Untersuchungshaft verbringt er nach richterlicher Anordnung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung.

Die Mängel in der dänischen Psychiatrie waren von Medizinern und Psychiatern selbst in den letzten Jahren immer lautstärker beklagt worden, so dass sie vor den Wahlen 2019 zum Wahlkampfthema wurden. Unter anderem hatte ein 2019 veröffentlichter Bericht 13 Fälle untersucht, in denen eine psychisch kranke Person angeklagt worden war wegen Mordes oder versuchten Mordes. Die Autoren des Berichtes stellten fest, dass in elf der 13 Fällen die Behandlung versagt hatte. "Und noch immer passiert das Gleiche:", sagte die forensische Psychiaterin Gitte Ahle, eine der Autorinnen, zu Politiken, Psychisch Kranke werden unzureichend behandelt."

Eines der Versprechen der 2019 siegreichen Sozialdemokraten war denn auch ein Zehnjahresplan zur Reform der Psychiatrie. Im Januar dieses Jahres schließlich legte der Nationale Gesundheitsrat einen umfassenden Plan zur Umsetzung solcher Reformen vor. Der Plan sei dann allerdings in einer Regierungsschublade "gestrandet", schrieb das Kristeligt Dagblad. Sie verstehe nicht, warum seit Januar nichts geschehen sei, sagte Pernille Skipper, die Sprecherin der rot-grünen Einheitsliste, eine der Unterstützerparteien der sozialdemokratischen Minderheitsregierung. Pernille Skipper sagte, nun müsse schnellstmöglich das Versäumte nachgeholt werden und noch vor den nächsten Wahlen ein Reformplan verabschiedet werden. Alles andere wäre "ein gigantischer Wortbruch".

Aus der Notaufnahme nach Hause geschickt

Verantwortlich für den Zustand des Systems seien die Sparrunden und Erosionen der letzten Jahre, sagen Experten. Einem zunehmenden Behandlungsbedarf stehe ein zunehmend schlecht ausgestattetes System gegenüber. Der Pflegeberuf finde aufgrund seines "Aschenputtel-Gehalts" nicht mehr genug Bewerber, depressive Menschen würden wegen fehlender Betten oft aus der Notaufnahme nach Hause geschickt, weil es ihnen "nicht schlimm genug" gehe, schrieb Nina Catalina Michaelen, die Vorsitzende der Vereinigung für Autismus und Asperger in einem Aufsatz: "Ein System, das sich um die Schwächsten kümmert, existiert nicht."

Gesundheitsminister Magnus Heunicke hatte in einer ersten Reaktion vergangene Woche angekündigt, die Regierung wolle Anfang September auf die anderen Parteien zugehen, um mit ihnen über Reformen zu sprechen - und war dafür umgehend als Zauderer scharf kritisiert worden: Angesichts möglicher baldiger Neuwahlen haben viele Angst, dass die Zeit dann nicht mehr reicht für die Verabschiedung echter Reformen. Nun will Heunicke den Startschuss auf Anfang August vorverlegen.

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