Süddeutsche Zeitung

Deutsch-dänische Geschichte:Warum fliehen Menschen?

Lesezeit: 4 min

Im dänischen Oksbøl landeten einst Zehntausende deutsche Kriegsflüchtlinge. Nun entsteht dort ein ambitioniertes Museum, das man auch lesen kann als Kommentar zur aktuellen Flüchtlingspolitik Kopenhagens.

Von Kai Strittmatter, Kopenhagen

Oksbøl ist ein kleiner Ort an der dänischen Nordseeküste, keine 3000 Seelen: eine Schule, eine Kirche, ein Bahnhof. Manchmal aber trifft auch einen solchen Ort "die Weltgeschichte mitten ins Herz", wie Claus Kjeld Jensen sagt. Jensen, Museumsleiter von Beruf, Aufklärer von Berufung, steht gerade inmitten eines Gräberfeldes mit Grabsteinen, die alle deutsche Namen tragen, 1800 an der Zahl. Er erklärt, wie er gedenkt, das über Jahrzehnte in Vergessenheit geratene Rendezvous des Ortes Oksbøl mit der Weltgeschichte freizulegen und fruchtbar zu machen für die Gegenwart. Sein Thema ist ein historisches und es könnte aktueller nicht sein: Es ist die Flucht.

Warum fliehen Menschen? Warum verlassen sie den Ort, der ein Leben lang ihr Heim war? Werden sie zurückgeschickt? Überleben sie die Flucht? Oder ergeht es ihnen wie der kleinen Hiltrud Lohrenscheit? Hier an diesem Ort gestrandet mit ihrer Mutter im Frühjahr 1945, hier an diesem Fleck begraben am 13. August 1945, sie wurde keine acht Monate alt. Es liegen viele Kinder auf dem Friedhof, die Kinder sind immer die Schwächsten.

Den Weiler Oksbøl ereilte die Weltgeschichte in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. Dänemark war noch von deutschen Truppen besetzt. Hitler hatte befohlen, die deutschen Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Reiches über die Ostsee auch nach Dänemark zu schaffen. 250 000 kamen in dem besetzten Land an - und sie blieben erst einmal auch dort, als das Dritte Reich besiegt und der Krieg zu Ende war.

Eine Kaserne außerhalb von Oksbøl schwoll an zum größten Flüchtlingslager auf dänischem Boden, 36 000 Deutsche lebten hier zu Spitzenzeiten, fast alle waren sie Frauen und Kinder. "Innerhalb von nur einem halben Jahr entstand hier die fünftgrößte Stadt Dänemarks", erzählt Claus Kjeld Jensen: eine Stadt mit eigener Schule, eigenem Krankenhaus und eigenem Theater. Eine Stadt hinter Stacheldraht.

Misstrauisch beäugt zunächst von den dänischen Behörden, die die Deutschen nach Kriegsende am liebsten umgehend losgeworden wären, was Briten und Amerikaner zunächst verhinderten. "Es herrschte eine Riesenangst, die Frauen würden dänische Ehemänner finden", sagt Jensen. Es gab dann aber auch große Anstrengungen von dänischer Seite, vor allem die Lagerschule erstaunlich progressiv zu organisieren, "mit Lehrern, die den Kindern Demokratie beibringen und Freunde sein wollten", wie Jensen erklärt. "Dieselben Leute, die diesen Ansatz hier im Lager ausprobierten, waren in den 1960er Jahren dann die, die das dänische Schulsystem reformierten."

Eigentlich ein Glücksfall für Museumsmacher

Der Friedhof in Oksbøl wird heute noch von 20 000 Menschen im Jahr besucht. Jenseits der Familien der Angehörigen aber war die Geschichte der deutschen Flüchtlinge in Dänemark lange vergessen.

Das wird sich nun ändern: Es entsteht hier ein Flucht-Museum, ein ambitioniertes Projekt. Designt vom Büro des Stararchitekten Bjarke Ingels, finanziert von beiden Ländern. Wenn Königin Margrethe II. am Mittwoch zu ihrem Staatsbesuch in Berlin eintrifft, dann wird sie auch die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung besuchen, einen der Kooperationspartner der Museumsmacher in Oksbøl. "Wie die beiden Nationen hier zusammenarbeiten, ist eine wunderschöne Geschichte der Versöhnung", sagt Museumsleiter Claus Kjeld Jensen.

Was Jensen nicht sagt: Die Entwicklung der Flüchtlingsströme und der dänischen Flüchtlingspolitik im Besonderen werden sein Museum nach der Eröffnung im kommenden Sommer zum lebendigen Kommentar der aktuellen Politik machen. Eigentlich ein Glücksfall für Museumsmacher. Und gleichzeitig heikel. Doch, sagt der Direktor, er habe durchaus bisweilen Nervosität verspürt bei manchen Politikern in Kopenhagen.

Jensen und sein Team hatten gleich am Anfang beschlossen, sich nicht zu beschränken aufs Deutsch-Dänische. "Die Flüchtlingskrisen heute sind viel größer und wichtiger", sagt er. Also werden sie nicht nur die Geschichte der jungen Frau erzählen, die 1945 aus Königsberg floh, sondern auch die der bosnischen Mutter aus Sarajevo und die der Syrerin, die Aleppo verlassen musste. "Es gibt so viele Parallelen", sagt Jensen. Man wolle die Gesichter hinter den Zahlen zeigen. "Wir wollen ein Gespräch, wir wollen Aufklärung und wir möchten, dass die Besucher Empathie verspüren."

Dänemark will künftig alle Asylbewerber nach Afrika schicken

Hartherzigkeit war zuletzt ein oft gehörter Vorwurf gegen Dänemarks sozialdemokratische Regierung, und es war nicht der einzige: Dänemark handle im Alleingang, unvereinbar mit EU-Regeln, klagte die EU-Kommission; die Regierung untergrabe "das internationale Schutzsystem für Flüchtlinge", warnte das UN-Flüchtlingskommissariat. Zuerst hatte Dänemark als einziges EU-Land Teile Syriens zum sicheren Rückkehrgebiet für Flüchtlinge erklärt. Später verabschiedete es ein Gesetz, das es dem Land erlauben soll, in Zukunft alle Asylbewerber nach Afrika zu schicken, in ein Lager in einem noch zu bestimmenden Staat; unter anderem sondierte man in Ruanda, Ägypten und Äthiopien. Erklärtes Ziel der Premierministerin: "Null Asylbewerber" auf dänischem Boden.

Außenminister Jeppe Kofod war einst angetreten für eine wertebasierte Außenpolitik, der unter anderem die Achtung der Menschenrechte als Kompass dienen sollte. In einem Gespräch mit deutschen Journalisten kurz vor dem Besuch der dänischen Königin in Berlin verteidigte Jeppe Kofod die Politik seiner Regierung. Alle seien sich einig: Das existierende Asylsystem sei "kaputt" und diene nur kriminellen Schleusern. "Wir kämpfen für ein gerechteres, humaneres Asylsystem." Eines, bei dem nicht Tausende im Mittelmeer sterben müssten. Deshalb die Suche nach einem Lager in Afrika.

Allerdings wollen dem Minister auch im eigenen Land viele nicht folgen. Als die konservative Zeitung Berlingske im vergangenen Monat eine Zwischenbilanz von Kofods Amtszeit zog, da applaudierten am lautesten die Rechtspopulisten, ansonsten lagen viele der gesammelten Urteile irgendwo zwischen "zynisch" und "Heuchelei". Der Minister habe seinen "Kompass verloren", war zu lesen. Und der norwegische Topdiplomat und Sozialdemokrat Jan Egeland attestierte den dänischen Genossen, ihre Haltung in der Flüchtlingsfrage sei das "Selbstsüchtigste und Heuchlerischste, was ich in der nordischen Politik seit Langem gesehen habe": "Wenn Sie also das nächste Mal nach Schweden fliehen, wie es so viele Dänen zwischen 1940 und 1945 taten, sollen die Schweden Sie dann auch nach Afrika schicken?"

Das Museum in Oksbøl, sagt Direktor Jensen, wolle sich auch dem Missbrauch der Worte annehmen: klarmachen, was ein Flüchtling ist, in einer Zeit, in der viele nur noch von "Migranten" sprechen. Ein eigener Raum wird der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gewidmet sein, die Dänemark als einer der ersten Staaten unterzeichnete. "Darauf sollten wir stolz sein. Es gibt Regeln, internationale Verpflichtungen."

Nein, sagt Claus Kjeld Jensen zum Abschied, man wolle sich mit keinem politischen Lager gemeinmachen. "Wir wollen aber zeigen: Hier ist ein riesiges Problem. Und das geht nicht weg, nur weil wir unsere Augen schließen oder einen Zaun hochziehen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5460054
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.