Cum-Ex-Skandal:Scholz glänzt mit formidablen Erinnerungslücken

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Erst angespannt, dann wieder locker: Olaf Scholz stellt sich am Mittwoch im Bundestag den Fragen der Abgeordneten. (Foto: Tobias Schwarz/AFP)

Der Finanzminister räumt im Bundestag ein, sich mehrmals mit einem Hamburger Bankier getroffen zu haben. Wegen seiner vielen Begegnungen könne er sich aber nicht konkret erinnern. Das ärgert nicht nur die Abgeordneten.

Von Cerstin Gammelin, Berlin

Wenn einer zwanzig Jahre in der Politik ist, weiß er, dass man besser persönlich erscheint, wenn es gilt, Vorwürfe aufzulösen. Folglich hat sich der Dauerläufer Olaf Scholz am Mittwoch einen Marathon zugemutet. Früh das Bundeskabinett, rüber zum Finanzausschuss, gleich darauf hoch in das Plenum des Bundestags zur Regierungsbefragung und kurz nach 15 Uhr noch zur Aktuellen Stunde. Scholz hatte das Gut zu verteidigen, ohne das ein Politiker einpacken kann: Glaubwürdigkeit.

Der Vizekanzler braucht besonders viel davon, er ist seit fünf Wochen der Kandidat, der die SPD in den Wahlkampf führen wird, erklärtes Ziel Kanzleramt. Dass ihn zum Start die Steuerbetrugsaffäre Cum-Ex einholt, der größte Steuerraub in der deutschen Geschichte, ist dumm gelaufen. Er musste also mal wieder die Flucht nach vorne antreten. Man dürfe nicht nachlassen im Bemühen, Cum-Ex-Geschäfte aufzuklären und Steuergelder zurückzufordern, sagt er. In diesem Sinne sei dies ein "sehr, sehr guter Termin".

Es sieht freilich nicht so aus, als ob Olaf Scholz es gut findet, dass er beispielsweise Fabio de Masi zuhören muss. Es ist 15.26 Uhr, die Aktuelle Stunde hat begonnen, die letzte parlamentarische Fragerunde an diesem Mittwoch. Scholz sitzt in der Regierungsbank, er hat die Arme fest vor dem Rumpf verschränkt. Der Sozialdemokrat lächelt schmallippig, als links vor ihm der Fraktionsvize der Linken ihn des Betrugs anklagt. De Masi ist zum informellen Anführer einer Oppositionskoalition von Linken, FDP und Grünen aufgestiegen, die Scholz stellen will. De Masi behauptet, es spreche viel dafür, dass sich Olaf Scholz als Hamburger Bürgermeister dafür eingesetzt hat, dass die Privatbank Warburg 47 Millionen Euro mutmaßlich geraubte Steuergelder nicht an das Finanzamt zurückzahlen muss. Ein heftiger Vorwurf. Cum-Ex, das ist das Kürzel für illegale Steuergeschäfte, bei denen Banken sich mehrmals nie gezahlte Steuern erstatten ließen. Scholz war von 2011 bis 2018 Erster Bürgermeister der Hansestadt, in der Befragung geht es um die Jahre 2016 und 2017. Er soll sein Verhältnis zur Privatbank Warburg darlegen, eine 1798 gegründete Privatbank, die 2016 in existenziellen Nöten war. Warum musste die Bank, die in Cum-Ex-Geschäfte verwickelt war, nicht das mutmaßlich zu Unrecht erhaltene Geld zurückzahlen, das ja Geld der Hansestadt war?

Was hat er mit dem Banker Christian Olearius besprochen? Scholz sagt, es habe in der Sache "keine politische Einflussnahme" gegeben, nie. Das Finanzamt habe über die Rückzahlung entschieden, "nach Recht und Gesetz". De Masi glaubt ihm nicht. Darf eine Finanzbeamtin über 47 Millionen Euro entscheiden? Warum ist sie nicht entlassen worden, als sie sich später geweigert hatte, auf Aufforderung aus Berlin weitere 43 Millionen Euro zurückzufordern? Hat sich der seine Stadt liebende Bürgermeister doch schützend vor die alteingesessene Privatbank gestellt? Nein. Und was ist mit den Parteispenden der Warburg Bank an einen SPD-Ortsverein in Hamburg. Sollen die zurückgezahlt werden? Er habe als politisch Verantwortlicher nie mit Spenden zu tun gehabt, um unbeeinflusst zu bleiben.

Seine Partei, auch das fällt auf, steht geschlossen hinter dem Kanzlerkandidaten. Es gebe "keine neuen Fakten", nur Vermutungen und Verdächtigungen, sagt der SPD-Abgeordnete Michael Schrodi nach der ersten Fragerunde des Tages. Was nicht stimmt. Denn der Grund dafür, dass es diese Fragerunden am Mittwoch überhaupt gibt, sind ja die neuen Fakten. Erst hatte Scholz nur ein Treffen mit dem Banker eingeräumt. Seit vergangener Woche ist klar, dass es zwei weitere gibt. Nachdem die Süddeutsche Zeitung von diesen Treffen berichtet hatte, hat Scholz nun auch eingeräumt, dass es sie gab.

Aber inhaltlich, sorry, die Erinnerung. Die Grüne Lisa Paus ist empört. "Es ist eine allgemeine Amnesie, man kann sich an nichts erinnern." Olaf Scholz sei ein Mann mit zwei Gesichtern. Das eine zeige sich, wenn er Cum-Ex als schlimmen Steuerbetrug verdamme. Das andere, wenn er sich nicht erinnern könne, was er mit einem Warburg-Banker besprochen habe, der ein paar Tage später die gute Nachricht bekommen habe, dass er 47 Millionen Euro nicht zurückzahlen müsse.

Nach einem guten Termin sah es auch mittags nicht aus, als Scholz in der Regierungsbank im Bundestag stand, sehr konzentriert, die Hände zueinander gewandt, so dass sich die Fingerspitzen beim Reden berühren. Am liebsten wäre er wohl gleich gegangen. "Schönen Tag", so hatte er nach fünf Minuten seine Einführungsrede beendet. Wie jemand, der sich verabschiedet. Aber natürlich ging es danach erst richtig los mit den Fragen: Was ist da in Hamburg passiert? Als einziges Bundesland hat Hamburg darauf verzichtet, geraubtes Steuergeld zurückzufordern?

Wie an einem roten Faden ziehen sich die Erinnerungslücken auch durch diese Fragerunde. Was ja logisch sei, sagt Scholz. Ein Bürgermeister sei Bürgermeister, weil er mit vielen Menschen rede. Persönlich habe er die Gespräche nicht gezählt, aber in Hamburg habe er mit Tausenden geredet. Man könne sich doch nicht an alle Gespräche erinnern. "Die Frage ist doch nicht, ob man mit jemandem redet", sagt er, "die Frage ist, wie wir innerlich eingestellt sind und wie wir uns beeinflussen lassen." - "Und glauben Sie mir, ich kann sehr störrisch sein."

Um 16.36 Uhr zeigt er sich wieder merklich entspannt. Doch die Zweifel sind nicht ausgeräumt

Das soll wohl heißen, dass auch der Banker Olearius nichts von ihm zu erwarten gehabt hat. Das nehmen ihm die Abgeordneten der Opposition nicht ab. "Sie waren doch Regierungschef in Hamburg, da müssen Sie doch die Fakten gekannt haben", sagt Florian Toncar von der FDP. De Masi fragt, wie er sich mit einem Banker unter vier Augen habe treffen können, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt habe. Der eine Bank geführt habe, die in Existenznöten gewesen sei. Es habe die Gefahr bestanden, dass ein Hamburger Traditionshaus hätte aufgeben müssen. Das seien außergewöhnliche Umstände gewesen, die ein Erster Bürgermeister hätte kennen müssen. Aber Scholz will sich nicht erinnern?

Das Kuriose ist ja, dass ein Kronzeuge für die ganze Affäre im Bundestag saß, aber nicht dazu sprechen durfte. Wolfgang Schäuble, der amtierende Bundestagspräsident, war ja in den Jahren 2016 und 2017 Bundesfinanzminister. Unter seiner Regie hatte das Ministerium die Hamburger 2017 angewiesen, noch nicht verjährte Forderungen bei der Warburg Bank einzutreiben. Die Finanzbeamten weigerten sich zunächst, es bedurfte einer zweiten Aufforderung. Heute sagt Scholz, das Vorgehen sei richtig gewesen.

Um 16.36 Uhr sitzt Scholz schon merklich ruhiger auf seinem Stuhl. Die Spannung ist raus. Man hat sie förmlich entweichen sehen. Die Fingerspitzen tippen nicht mehr gegeneinander, die linke Hand ist lässig in der Hosentasche.

Es hatte ja noch das Restrisiko bestanden, dass Scholz hätte absagen müssen. Diese hartnäckige Erkältung. Oder doch das Virus? Wie es so seine Art ist, hatte sich der Minister lieber noch testen lassen, gleich zwei Mal. Sollte sich ja niemand an seinen Aerosolen anstecken. Der Corona-Test war negativ ausgefallen. Und der auf seine Glaubwürdigkeit?

© SZ vom 10.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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