Die Zahl der gemeldeten Ansteckungen mit dem Coronavirus in Europa steigt wieder deutlich an. Vielerorts sind die Intensivstationen von Krankenhäusern bereits am Limit. Regierungen verhängen strengere Maßnahmen, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen.
- In den Niederlanden wurden am Samstagnachmittag 6500 Neuinfektionen in nur 24 Stunden gemeldet - mehr als je zuvor. Die Regierung warnte vor neuen landesweiten Beschränkungen, wenn die Zahl der Ansteckungen und Krankenhaus-Einweisungen am Wochenende nicht sinken sollte. Die Zahl der Patienten in Krankenhäusern und auf Intensivstationen steigt seit Tagen. Kliniken hatten die Versorgung für andere Patienten bereits seit Tagen drastisch reduziert und Hunderte Operationen abgesagt. Vergangene Woche wurden im Schnitt 16 Tote am Tag gemeldet. Bürger und Experten fordern deutlich strengere Maßnahmen. Masken sind für öffentliche Räume zwar dringend empfohlen, bislang aber keine Pflicht.
- Auch in Polen meldete das Gesundheitsministerium am Samstag einen Rekordwert: 5300 Neuinfektionen binnen 24 Stunden. Das ist der höchste Wert seit Ausbruch des Coronavirus in Deutschlands Nachbarland. Die Gesamtzahl der nachgewiesenen Ansteckungsfälle steigt auf 121 638. Insgesamt starben nach offiziellen Angaben bislang 2972 Menschen mit oder an dem Virus. Die Regierung hat die Auflagen verschärft. So müssen in den Straßen stets Mund- und Nase-Bedeckungen getragen werden.
- In Österreich stiegen die Neuifektionen pro Tag auf 1235. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom Samstag bleibt dabei Wien mit 511 Neuinfektionen binnen 24 Stunden landesweit der Spitzenreiter. In den Krankenhäusern veränderte sich die Lage den Angaben zufolge nicht. Insgesamt stieg die Zahl der sogenannten aktiven Fälle auf 10 800. Unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl liegen die Zahlen der Neuinfektionen und der aktiven Fälle deutlich über den aktuellen Werten in Deutschland.
- Tschechien - ehemals ein Corona-Musterschüler - ist nach den jüngsten Zahlen der EU bei den Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner zum traurigen Spitzenreiter geworden. Im Schnitt steckten sich binnen 14 Tagen 374,6 Menschen je 100 000 Einwohner an. Am Donnerstag wurden in dem 10,7-Millionen-Einwohner-Land 5394 neue Fälle verzeichnet - der dritte Tagesrekord in Folge. Die Regierung hat Kultur- und Sportveranstaltungen verboten. Sollte die Kurve nicht abflachen, droht nach Ansicht von Experten bald ein dramatischer Engpass im Gesundheitssystem.
- Spanien ist mit 850 000 Infektionen ebenfalls stark betroffen. Die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen lag zuletzt bei 115. In einer Woche starben 541 Menschen. Der Anteil der Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern steigt. Landesweit gelten strenge Beschränkungen und Maßnahmen, auch Maskenpflicht im Freien. Viele Gebiete und Gemeinden sind abgeriegelt. Über die Hauptstadt verhängte die spanische Regierung am Freitag den Notstand. In Madrid und einigen Vororten dürfen die Menschen ihre Wohngemeinde nur mit triftigem Grund verlassen - etwa für den Weg zur Arbeit oder für Arztbesuche. Betroffen sind knapp 4,8 Millionen Menschen. Der Notstand soll zwei Wochen gelten.
- Frankreich hat in mehreren Großstädten bereits die höchste Corona-Warnstufe verhängt - unter anderem in Paris, Lyon und Marseille. Gesundheitsminister Olivier Véran warnt, dass es noch schlimmer wird. Sorge herrscht über die Lage in den Pariser Krankenhäusern. Dort nimmt der Anteil der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen zu. Die Regierung reagiert etwa mit Schließungen von Bars in den Regionen, in denen die Lage besonders ernst ist. Generelle Ausgangsbeschränkungen im ganzen Land sollen verhindert werden. Mit mehr als 20 000 Corona-Neuinfektionen binnen 24 Stunden gab es am Freitag einen Tageshöchstwert.
- Großbritannien meldet einen Mangel an Tests, ein Flickenteppich an Regelungen, marode Kliniken, Zehntausende Todesfälle. Der im Frühjahr selbst erkrankte Premier Boris Johnson steht zunehmend in der Kritik, ein schlechter Krisenmanager zu sein. Seine Regierung spricht von einer "gefährlichen" Lage. Besonders stark betroffen sind der Norden Englands, Schottland, Nordirland und Teile von Wales. Experten zufolge stehen vor allem in Nordengland die Kliniken vor dem Kollaps. Am Freitag meldeten die Behörden landesweit knapp 14 000 neue Fälle.
- Italien, das im März Europas Corona-Hotspot war, registrierte am Freitag 5372 neue Ansteckungen. Der große Unterschied zum beginn der Pandemie: Derzeit sterben pro Monat so viele Menschen an Covid-19 wie damals an einem Tag. Die Intensivstationen sind heute mit annähernd 400 Covid-Patienten nicht am Limit. Rom verschärft ständig die Maßnahmen - nun gilt eine Maskenpflicht auch im Freien. Besonders stark kletterten die Werte am Freitag in der Lombardei im Norden und in Kampanien im Süden.
- Belgien verzeichnete zuletzt ebenfalls rasch steigende Zahlen. Die 14-Tage-Inzidenz - die Zahl an Infektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb zwei Wochen - lag zuletzt bei 280,7. In der Hauptstadt Brüssel sind Cafés und Bars nun für einen Monat geschlossen. Die Regierung verschärfte auch die landesweiten Regeln: Bürger dürfen pro Monat nur noch mit drei Personen außerhalb der Familie engen Kontakt pflegen. Um 23 Uhr ist Sperrstunde.
Auch immer mehr deutsche Metropolen entwickeln sich zu Corona-Hotspots: Wie die Städte der Pandemie Herr werden wollen.
Slowakei führt Maskenpflicht in der Öffentlichkeit ein
Die Slowakei hat eine Verschärfung der Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus angekündigt. Ab Donnerstag müssen in allen Städten und Dörfern im Freien Masken getragen werden. Öffentliche Veranstaltungen werden verboten, Gottesdienste eingeschlossen. Nur Hochzeiten, Begräbnisse und Taufen dürfen mit einer begrenzten Zahl von Teilnehmern stattfinden.
Große Sportveranstaltungen dürfen ohne Fans abgehalten werden. Fitnessstudios und öffentliche Schwimmbäder werden geschlossen. Restaurants dürfen in Gebäuden keine Speisen servieren. Die Kundenzahl in Geschäften und Einkaufszentren wird begrenzt. Ab Montag wird an allen Oberschulen nur Fernunterricht angeboten.
Spanische Regierung verhängt Notstand über Madrid
In Spanien eskaliert der Streit zwischen der Regierung und der Hauptstadt Madrid über die Corona-Politik. Laut des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders ruft die sozialdemokratisch geführte Zentralregierung einen Notstand für Madrid aus, um dort einen teilweisen Lockdown durchzusetzen. Die konservativ geführte Stadtregierung Madrids lehnt die vom Gesundheitsministerium verordneten Beschränkungen ab, weil diese ihrer Auffassung nach unrechtmäßig, übertrieben und schädlich für die lokale Wirtschaft sind.
Der Verhängung des Notstandes war ein Streit vor Gericht vorausgegangen. Die Regierung von Madrid hatte gegen den vom Gesundheitsministerium verhängten Lockdown geklagt und Recht bekommen. Die Anordnung des Gesundheitsministeriums beschränke in unrechtmäßiger Form Grundrechte und -freiheiten, entschied das Oberlandesgericht der Region Madrid. Die zweiwöchige Absperrung der spanischen Hauptstadt und von neun weiteren Gemeinden im Großraum Madrid war am Freitagabend vergangener Woche in Kraft getreten. Regionalpräsidentin Isabel Díaz Ayuso hatte sich der Anordnung gebeugt, aber Widerspruch eingelegt.
Von den Absperrungen waren knapp 4,8 der 6,6 Millionen Einwohner der "Comunidad Autónoma" betroffen. Diese dürfen ihre jeweilige Wohngemeinde nur noch mit triftigem Grund verlassen - etwa, um zur Arbeit zu fahren oder den Arzt aufzusuchen. Besucher von außerhalb durften die Städte nur in Ausnahmefällen betreten.
Ayuso hatte geklagt, der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez führe einen "politischen Krieg" gegen ihre konservative Regierung und greife unrechtmäßig in Kompetenzen der Regionen ein. Vor der Zwangsabriegelung seien die Corona-Zahlen in ihrer Region unter anderem durch die Abriegelung kleinerer Bezirke deutlich besser geworden. In der Tat ging die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner binnen 14 Tagen von mehr als 800 auf aktuell 591 zurück.
Gemäß der ministeriellen Anordnung soll es in Spanien immer dann Absperrungen geben, wenn in einer Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern die 14-Tage-Inzidenz über 500 liegt, mindestens zehn Prozent aller Tests positiv ausfallen und die Intensivbetten zu mehr als 35 Prozent mit Covid-Patienten belegt sind. Wegen dieser Anordnung waren seit Mittwoch auch die Provinzhauptstädte León und Palencia in Kastilien und León nördlich von Madrid abgeriegelt.
Rio erlaubt trotz hoher Opferzahlen wieder Samba-Happenings
Mitten in der Corona-Krise dürfen in Brasiliens Metropole Rio de Janeiro wieder Samba-Happenings stattfinden. Das berichtet das Nachrichtenportal G1 unter Berufung auf die Stadtverwaltung. Demnach sind künftig "zuvor genehmigte kulturelle Veranstaltungen und Aktivitäten" wieder gestattet, so zum Beispiel "Roda de Samba", bei denen Musiker zusammenkommen und spielen. Zu der Bestimmung gehöre, dass bei den Veranstaltungen die Hygienekonzepte eingehalten werden.
An der berühmten Pedra do Sal (Salzfelsen) - einer in den Fels gehauenen Treppe in der Hafengegend Rios, die beliebter Austragungsort von Samba-Partys ist - wurden die Regeln allerdings bereits in den vergangenen Tagen nicht befolgt. Hunderte Menschen waren G1 zufolge vor Ort, viele ohne Mundschutz.
Ein großer Teil des Lebens in Rio spielt sich im Freien ab. Vor allem am Wochenende ist es schwer, die "Cariocas", wie die Bewohner der Stadt heißen, dazu zu bewegen, zu Hause zu bleiben. Dann füllen sich für gewöhnlich Strände und Bars. Die Samba-Gruppen waren zuletzt weitgehend verstummt. Der weltberühmte Karneval, der im Februar stattfinden sollte, wurde verschoben.
Nach den USA und Indien verzeichnet Brasilien die meisten Infektionen mit dem Coronavirus. Mehr als fünf Millionen Menschen wurden seit Beginn der Pandemie positiv getestet. Das geht aus Daten des Gesundheitsministeriums in Brasília vom Mittwoch (Ortszeit) hervor. Insgesamt 148 228 Menschen sind in Brasilien im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben.
Die tatsächlichen Zahlen in Brasilien dürften noch weit höher liegen, auch weil das Land sehr wenig testet. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass sich mindestens siebenmal so viele Menschen infiziert haben wie bislang bekannt, und doppelt so viele wie erfasst gestorben sind. Brasilien hat 210 Millionen Einwohner und ist flächenmäßig 24 Mal so groß wie Deutschland.
Am 26. Februar war in Brasilien als erstem Land Süd- und Lateinamerikas ein Mensch positiv auf den Erreger Sars-CoV-2 getestet worden. Inzwischen halten viele Brasilianer die Corona-Pandemie quasi für beendet, Einschränkungen des öffentlichen Lebens wurden aufgegeben. Der rechte Staatspräsident Jair Bolsonaro, der wie weitere Mitglieder seiner Familie selbst infiziert wurde, hatte die Krankheit Covid-19 als "leichte Grippe" bezeichnet, für Verwirrung in der Bevölkerung über die Schwere des Krankheitsbilds gesorgt und Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie abgelehnt.
Ultraorthodoxe geraten in Israel mit der Polizei aneinander
In Israel sind in der Nacht zu Mittwoch Hunderte ultraorthodoxe Juden mit der Polizei aneinandergeraten. Bilder zeigten eine große Menschenmenge in Jerusalem, die Steine und Metallstangen auf die Polizei warf, die wegen der Corona-Pandemie verhängte Einschränkungen durchsetzen wollte. Nach Polizeiangaben wurden 17 Personen festgenommen.
Auch in der ultraorthodoxen Siedlung Modiʿin Illit im Westjordanland kam es zu Zusammenstößen. Die Polizei erklärte, sie habe Gläubige aufgefordert, eine Synagoge zu verlassen, und sei mit Steinen und Feuerwerkskörpern attackiert worden. Vier Polizisten hätten Verletzungen erlitten, sieben Personen seien festgenommen worden. Die israelische Regierung hat wegen steigender Infektionszahlen eine landesweite Ausgangssperre verhängt, nun wurde beschlossen, den speziellen Coronavirus-Notstand bis zum 13. Oktober auszudehnen.
Teile der ultraorthodoxen Gemeinschaft (Charedim) halten sich jedoch nicht an Auflagen für religiöse Versammlungen. So hatte die Polizei jüngst mit den Gefolgsleuten eines an Covid-19 verstorbenen beliebten Rabbi abgesprochen, dass nur ein kleines Begräbnis stattfinden sollte. Es kamen Tausende, Sicherheitsabstände wurden nicht eingehalten und es kam zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die versuchte, die Ansammlung aufzulösen.
Aber auch Gegner von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kritisieren das Verbot von Demonstrationen als Versuch, Regierungskritiker mundtot zu machen. Sie versammelten sich zu kleineren Protesten.