Coronavirus:Warum sich im Osten Deutschlands weniger Menschen infizieren

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Ostseestrand in Warnemünde: Ohne Besucher und Touristen wurde vielen erst deutlich, wie dünn besiedelt manche Gebiete des deutschen Nordostens sind. (Foto: Frank Hormann/Fotoagentur Nordlicht/imago)

Die geringeren Fallzahlen haben mit Demografie zu tun und einer Erkenntnis: In Zeiten der Pandemie können Nachteile zum Vorteil werden.

Von Peter Burghardt und Ulrike Nimz, Rostock/Leipzig

Der Rostocker Däne eilte schon immer gerne voraus, sonst wäre er nicht in diesem Amt. Im Sommer 2019 wurde Claus Ruhe Madsen erster ausländischer Bürgermeister einer deutschen Großstadt, mit Rauschebart, Fahrrad und seinem Wahlspruch "Rostock bewegen". Dann kam das Virus, aber schon Ende April 2020 meldete der dänische OB seinen nächsten Coup: "Vielleicht sogar als erste Großstadt in Deutschland ist Rostock Corona frei", informierte der parteilose Unternehmer.

Er lobte Shutdown, Tests, Klinik, Gesundheitsamt. Und ahnte trotzdem, dass Rostock kaum coronafrei bleiben würde. Am 4. Mai wurde in einer Rostocker Arztpraxis eine Ansteckung bekannt, nach vier Wochen ohne Fall. Dieser Tage kamen in der Hansestadt und in ihrer Umgebung sieben Fälle dazu, aber das ändert wenig an der Bilanz. Am Dienstag hieß es aus dem Landkreis Vorpommern, dass es in Stralsund und dem Umland keine Infizierten mehr gebe.

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Zwischenzeitlich waren die Quarantäne-Regelung für Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren, gelockert worden. Nun hat die Regierung in Hannover sie wieder verschärft.

Das Robert-Koch-Institut zählte für Mecklenburg-Vorpommern bis Freitag 740 Fälle, 46 pro 100 000 Einwohner. 682 von ihnen gelten als geheilt, 20 Menschen sind an Covid-19 gestorben. Das ist die mit Abstand niedrigste Quote in Deutschland - Bayern hat im Verhältnis zur Bevölkerung sieben Mal so viele Patienten.

In Mecklenburg-Vorpommern gab es wieder Grenzkontrollen, 30 Jahre nach dem Mauerfall

Wer einen Blick auf die Corona-Landkarte warf, konnte zu Beginn der Pandemie die Umrisse der DDR erahnen. Das Virus scheint es im Osten schwerer zu haben; das Land ist weniger dicht besiedelt. Jenseits der urbanen Zentren ist die Bevölkerung eher sesshaft und nicht so mobil. Karneval ist kein von Bützchen begleitetes Massenphänomen, zum Skiurlaub geht es auf den Fichtelberg, nicht nach Ischgl.

Der Shutdown kam im Osten, bevor die Kurve allzu steil nach oben schießen konnte, und wurde frühzeitig durch weitere Maßnahmen ergänzt: In Jena, der ersten deutschen Stadt mit Maskenpflicht, sind derzeit zwei aktive Infektionen nachgewiesen. Virus-Hotspots lassen sich oft nachverfolgen: Im Landkreis Zwickau war es eine Physiotherapeutin, die sich im Skiurlaub infiziert hatte und symptomfrei noch 40 Patienten behandelte. Der ebenfalls stark betroffene Landkreis Greiz in Thüringen hat es mit den Folgen von Familienfeiern und einer eigensinnigen Landrätin zu tun. Dort und im Kreis Sonneberg setzt das Thüringer Gesundheitsamt nun striktere Maßnahmen durch: Gaststätten sollen nur im Außenbereich öffnen dürfen. Seit Freitag liegen beide Landkreise unter der kritischen Marke von wöchentlich 50 Neuinfektionen auf 100000 Einwohner.

Die insgesamt aber niedrigen Fallzahlen sind für die ostdeutschen Ministerpräsidenten das Hauptargument dafür, die Corona-Beschränkungen schneller zu lockern als anderswo: In Sachsen-Anhalt dürfen sich seit Anfang Mai wieder bis zu fünf Menschen treffen, auch wenn sie nicht gemeinsam in einem Haushalt leben. Thüringen erlaubt Versammlungen ohne Teilnehmerbegrenzung. In Sachsen sollen von Montag an Kitas und Grundschulen wieder öffnen, eine Woche später auch in Brandenburg.

Die rot-schwarze Regierung in Mecklenburg-Vorpommern war erst besonders streng, die Urlaubsregion wurde im März für Touristen geschlossen. Wer sich aus dem ebenfalls gesperrten Schleswig-Holstein hinübertraute, der kam zum Beispiel am Schaalsee an einem Einreiseverbotsschild vorbei, es gab Kontrollen, drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Jetzt dürfen am Montag Einheimische wieder in die Hotels und von 25. Mai an auch Fremde ins Land, sofern sie eine Unterkunft gebucht haben, man will an Ostsee und Seenplatte nicht noch die nächste Feriensaison verpassen.

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Tagestouristen dagegen droht fürs Erste ein Bußgeld von bis zu 2000 Euro, wenn sie im Nordosten erwischt werden, für deren Rückkehr gibt es noch keinen Termin. In diesen Wochen der Beschränkungen merkte man an den Straßen neben blühenden Rapsfeldern und an verlassenen Stränden, wie leer Mecklenburg-Vorpommern sein kann, wenn die Besucherscharen fehlen, das soll sich zu Pfingsten ändern. Mit allen Chancen und Gefahren. 34 Millionen Übernachtungen waren es im vergangenen Jahr, Rekord.

Joachim Ragnitz von der Dresdner Niederlassung des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung verweist mit Blick auf die Fallzahlen auch auf ökonomische Unterschiede zwischen Ost und West, die wohl noch lange nicht auskuriert sind. Ostdeutsche Unternehmen seien in der Regel kleinteiliger und regional orientiert, das bedeute weniger Dienstreisen im In- und Ausland. Ein Land wie Sachsen unterhalte regen Handel und Pendelverkehr vor allem mit Tschechien oder Polen, wo es zuletzt wenig Infizierte gab. Und doch könnten die Folgen der Pandemie den Osten härter treffen, sagt Ragnitz: "Tourismus und Gastronomie sind hier traditionell starke Wirtschaftszweige und in der Krise zum Erliegen gekommen." Die Eigenkapitaldecke sei bei vielen Mittelständlern dünner, Unternehmer seien im Schnitt älter. "Mancher wird sich überlegen, ob er vor dem Ruhestand noch einen Kredit aufnimmt oder den Laden lieber zumacht."

Der Soziologe fühlt sich an den letzten Sachsenkönig erinnert: "Macht euern Dreck alleene!"

Dass die unterschiedliche regionale Ausbreitung des Virus neben sozioökonomischen Faktoren auch andere, zwischenmenschliche, Prozesse offenlegt, glaubt Till Hilmar, Soziologe an der Uni Bremen. Er forscht zu Nachwendeerfahrungen in Ostdeutschland und Tschechien. "Die Menschen im Osten, könnte man sagen, praktizieren soziale Distanzierung schon länger", sagt Hilmar und spricht von einer "Rückzugsgesellschaft".

Ursachen hierfür seien vor allem in den Neunzigerjahren zu suchen und den komplexen Erfahrungen, die Wissenschaftler mit dem nüchternen Wort Transformation beschreiben. "Um sich gegen die massive Arbeitsmarktkrise zu wappnen, sind Ostdeutsche oft im Familiären näher zusammengerückt, haben auch beruflich kleinere Netzwerke als Westdeutsche, weniger breit gestreute Kontakte zu anderen", sagt Hilmar. Tausende hätten nach der Wende ihre Mitgliedschaft in Gewerkschaften, Vereinen und Organisationen niedergelegt, teils aus Enttäuschung, nicht gehört zu werden, teils, weil die neuen Strukturen als fremd und übergestülpt empfunden wurden. "Es ist, als wäre vielen angesichts der westdeutschen Einverleibung der ostdeutschen Institutionen nur die Worte des letzten sächsischen Königs im Kopf nachgehallt: Macht euern Dreck alleene!" Vor allem Ältere blieben bis heute gern unter sich.

Die Stadt Rostock in Mecklenburg-Vorpommern schloss früh Schulen, sagte Konzerte ab. Oberbürgermeister Madsen riet: "Testen, testen, testen." Die Region könne "auf gleicher Linie wie Südkorea oder Island" sein. Rostocks Corona-Bürgertelefon wird nun eingestellt - es rufen nicht mehr viele Menschen an.

© SZ vom 16.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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