Corona-Krise:Ein Virus spaltet die Gesellschaft

Coronavirus - Göttingen

Unter Quarantäne gestellter Wohnkomplex in Göttingen.

(Foto: dpa)

Die Corona-Pandemie trifft arme und benachteiligte Menschen besonders hart: Sie haben ein höheres Risiko, schwer zu erkranken - und sie leiden stärker unter den Folgen der Krise.

Von Felix Hütten, München, und Henrike Roßbach, Berlin

Die Illusion war von kurzer Dauer. Zu Beginn der Corona-Pandemie schien es, als sei das Sars-CoV-2-Virus ein großer Gleichmacher; schließlich befällt es jede Schleimhaut, die es finden kann, egal ob Starnberg-Millionär oder Stendal-Minijobber. Sein einziges Ziel: sich zu vermehren. Nun aber wird immer deutlicher sichtbar, dass die Krise sehr wohl eine soziale Dimension hat.

Besonders eindrucksvoll zeigen das die jüngsten großen Ausbrüche. Die Tönnies-Fleischfabrik in Gütersloh, die Wohnblöcke in Berlin-Neukölln: Hotspots entstehen dort, wo Menschen unter schwierigen Bedingungen wohnen und arbeiten. Wo große Familien in kleinen Wohnungen leben, wo Schlachthofarbeiter zu nah nebeneinander am Zerlegeband stehen und in Gruppenunterkünften schlafen. Hinzu kommt die enge, feuchte und kühle Umgebung im Schlachthof, die das Risiko einer Ansteckung möglicherweise erhöht.

Neu ist all das natürlich nicht. Es ist bekannt, dass Menschen mit geringem sozio-ökonomischen Status stärker und häufiger erkranken. Daten aus den USA und Großbritannien zeigen, dass dies auch für Covid-19 gilt. Dass sich die Erkrankungsschwerpunkte verlagern, von reisefreudigen Skiurlaubern auf Menschen in prekären Verhältnissen, sei "der normale epidemiologische Verlauf, so zynisch das klingt", sagt Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte der Bertelsmann Stiftung.

Risiko um 84 Prozent erhöht

Für Deutschland liefern erste Untersuchungen deutliche Hinweise, dass auch hierzulande die Gesundheit armer Menschen unter der Pandemie besonders leidet. So zeigt eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung des Instituts für Medizinische Soziologie der Uniklinik Düsseldorf und der AOK, dass Bezieher von Arbeitslosengeld II ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko für einen Covid-19-bedingten Krankenhausaufenthalt hatten. Eine genaue Erklärung der Ergebnisse steht noch aus. "Als wissenschaftlich belegt aber gilt, dass Menschen, die von Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind, häufiger an Vorerkrankungen leiden, die im Fall einer Coronainfektion das Risiko eines schweren Verlaufs erhöhen", sagt Studienleiter Nico Dragano. Die Forscher werteten für ihre noch nicht begutachtete Studie Daten von mehr als 1,3 Millionen Versicherten aus.

Um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie methodisch zu untersuchen, hat sich das Kompetenznetz Public Health zu Covid-19 gegründet, ein Zusammenschluss von mehr als 1000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. In einer ersten Stellungnahme schreiben sie, es sei davon auszugehen, dass sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen häufiger mit dem Virus in Kontakt kämen, häufiger schwer erkrankten und dass sie verstärkt unter dem Infektionsschutz litten - etwa durch Arbeitslosigkeit, Isolation oder fehlende Bildungsmöglichkeiten.

"Müllwerker können keine Home-Office machen"

Letzteres ist der zweite soziale Aspekt der Pandemie. Bernd Siggelkow, Gründer des christlichen Kinderhilfswerks Arche, das sich um sozial benachteiligte Kinder kümmert, berichtet von der Isolation vieler Familien, von Kindern, die durch wochenlange schlechte Ernährung bis zu 30 Kilo zugenommen hätten, von Flüchtlingskindern, die Deutsch verlernt hätten, von sechsköpfigen Familien auf 70 Quadratmetern ohne Balkon und von Jugendlichen, die sich an die Trägheit vor dem Bildschirm gewöhnt hätten. Die Krise habe noch einmal gezeigt, wie abgehängt viele Kinder seien, sagt Siggelkow. "Wären wir nicht zu ihnen nach Hause gekommen, wären sie vergessen gewesen." Der Verein kümmerte sich um Handys für Schulkinder, half online bei den Hausaufgaben und übersetzte die Mitteilungen der Regierung. Nach den Ferien, sagt Siggelkow, werde man sehen, wie weit die Schere auseinanderklaffe.

Gräben tun sich auch zwischen jenen auf, die von zu Hause aus arbeiten können, und jenen, die rausmüssen. Zu Letzteren gehören viele Geringverdiener, etwa im Lebensmitteleinzelhandel oder der Pflege. "Menschen im Home-Office haben ein geringeres Risiko, sich anzustecken", sagt Stefan Liebig, Verteilungsforscher am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Gleichzeitig sei die Möglichkeit zur Heimarbeit abhängig vom Bildungsstand. "Müllwerker und Busfahrer können kein Home-Office machen." Laut DIW sind Erwerbstätige mit geringer Bildung zudem stärker von Kurzarbeit betroffen als Hochgebildete.

Neue Erkenntnisse zu den sozialen Folgen der Pandemie erhofft Liebig sich von einem Projekt, an dem neben dem Sozio-ökonomischen Panel am DIW und der Universität Bielefeld noch weitere Forschungseinrichtungen beteiligt sind und für das circa 12 000 Menschen befragt werden. Ein Problem aber bleibt die Datenlage: Wegen der insgesamt niedrigen Infektionsrate sind unter den Befragten Stand jetzt nur 35 positiv auf das Virus getestet.

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29.11.2011 Rheda Wiedenbrueck Schlachthof Tönnies . *** 29 11 2011 Rheda Wiedenbrueck slaughterhouse Tönnies

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