Infektionszahlen in Deutschland:Das Schlimmste ist noch nicht geschafft

Lesezeit: 3 Min.

  • Das Virus verbreitet sich weiterhin sehr schnell in Deutschland.
  • Das Tempo hat zwar etwas nachgelassen, doch ist dies noch kein Grund zur Entwarnung.
  • Denn zum einen wirken sich die jüngst beschlossenen schärferen Maßnahmen erst mit einer starken Verzögerung aus.
  • Und zum anderen reicht die Testkapazität nicht, um die tatsächliche Lage genau erfassen zu können.

Von Christian Endt, München

"Wir stehen am Anfang dieser Epidemie", sagte Lothar Wieler, der Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), als er am Mittwoch seinen neuesten Lagebericht zum Coronavirus in Deutschland vortrug. Ein Satz, der wenig Hoffnung macht, dass sich die Situation vielleicht bald entspannen könnte. Tatsächlich nehmen die bestätigten Infektionen weiterhin rapide zu. Am Dienstag stieg die Zahl um fast 4000 auf nun 32 986 Fälle, auch am Mittwoch kamen Tausende Neuinfektionen hinzu. Diese Summe ergibt sich aus den offiziellen Angaben der Bundesländer, die etwa von der Johns-Hopkins-Universität und von der SZ-Redaktion zusammengetragen und errechnet werden.

In den Berichten des RKI tauchen die Zahlen aufgrund des mehrstufigen Meldeverfahrens erst ein paar Tage später auf. Aus dieser Verzögerung entsteht eine gewisse Unklarheit über den Stand der Dinge, weshalb das RKI zuletzt in der Kritik stand. "Wenn Sie ein amtliches Ergebnis haben wollen, das ist eben genauer und dauert entsprechend länger", sagte Wieler nun. Wobei es sich natürlich auch bei den Angaben der Landesbehörden um amtliche Daten handelt.

Ein fortgesetzter deutlicher Anstieg der Zahlen um Tausende Neuinfektionen pro Tag lässt sich jedenfalls über alle Quellen hinweg feststellen. Dennoch steckt in den Daten auch eine gute Nachricht: Die Ausbreitung der Epidemie geht zwar weiter, das Tempo nimmt jedoch derzeit ab. Dies lässt sich etwa durch die Verdopplungszeit ausdrücken, also die Anzahl an Tagen, nach denen die Zahl der Infizierten jeweils auf das Zweifache gestiegen ist.

Mitte der vergangenen Woche entsprach die Zunahme der Fallzahlen noch einer Verdopplung alle 2,3 Tage. Bereits Anfang dieser Woche zeichnete sich eine deutliche Verlangsamung ab, die jedoch nicht aussagekräftig war: Eine Recherche des Spiegel hat gezeigt, dass viele Gesundheitsämter am Wochenende keine neuen Fallmeldungen weitergaben. Inzwischen sind die Zahlen jedoch nachgemeldet, weshalb die derzeitige Verdopplungszeit von 4,5 Tagen als gesichert gelten kann - zumindest, was die durch Tests bestätigten Fälle anbelangt.

Ob Merkels Appell Wirkung gezeigt hat, wird erst in einer Woche messbar sein

Ist das Schlimmste also geschafft? Dieses Fazit wäre verfrüht. Mindestens zwei Gründe sprechen dagegen, dass sich die Lage bereits entspannt. Zum einen ist es wenig plausibel, dass sich die politisch beschlossenen Maßnahmen bereits jetzt nennenswert auf die Fallzahlen auswirken. Die Ausgangsbeschränkungen der Bundesländer sind erst wenige Tage in Kraft, der Appell der Bundeskanzlerin via Fernsehansprache liegt eine Woche zurück. Auch die Schulen sind erst seit Montag vergangener Woche geschlossen. All diese Schritte sollen die Kontakte zwischen den Menschen reduzieren und damit zu einem Rückgang der Ansteckungen führen.

Doch Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich diese Maßnahmen erst mit einem Abstand von etwa zwei Wochen in den Fallzahlen niederschlagen. Denn nach einer Ansteckung vergehen in der Regel fünf Tage, bis ein Patient Symptome zeigt. Frühestens dann kann er sich um einen Test bemühen. Anschließend vergehen weitere Tage, bis das Testergebnis vorliegt und vom Arzt an das örtliche Gesundheitsamt, von dort an die Landesbehörden und schließlich ans RKI weitergegeben wird. Viele Patienten sind außerdem bereits ansteckend, bevor sie selbst Symptome zeigen und können in der Zwischenzeit weitere Menschen infizieren. Wer sich beispielsweise Mitte der vergangenen Woche angesteckt hat, als die meisten Geschäfte noch geöffnet waren und sich die Menschen gemeinsam in die Sonne setzten, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit erst im Laufe der kommenden Woche in der Statistik auftauchen.

Zum zweiten reichen womöglich bereits jetzt die Testkapazitäten nicht mehr aus, um alle Verdachtsfälle zu überprüfen. Wer nicht getestet wird, kann aber auch kein positives Testergebnis bekommen und somit auch nicht in die Statistik eingehen. Hierzu eine Überschlagsrechnung: Derzeit werden in Deutschland pro Woche etwa 200 000 Corona-Tests durchgeführt. In den vergangenen sieben Tagen wurden knapp 24 000 neue Fälle gemeldet. Jeder neunte Test fällt also positiv aus.

Inzwischen gibt es etwa 4000 neue Fälle pro Tag. Um diese festzustellen, wären somit 36 000 Tests pro Tag notwendig, etwa 250 000 Tests pro Woche - deutlich mehr, als die Labore leisten können. Zwar lässt sich die Testkapazität noch etwas steigern - solange die Fallzahlen jedoch exponentiell wachsen, ist dieses Rennen für die Labore nicht zu gewinnen. Außer es gelingt, die Tests gezielter einzusetzen, also den Anteil der positiven Ergebnisse zu erhöhen.

Viele Fachleute wie der Virologe Christian Drosten plädieren daher dafür, bei der Beobachtung der Epidemie generell weniger auf die Testergebnisse zu vertrauen. Das Robert-Koch-Institut empfiehlt Tests aktuell nur bei Menschen, die Symptome zeigen und außerdem Kontakt zu bestätigten Fällen haben, Risikopatienten sind oder im Gesundheitswesen arbeiten. Ansonsten: "nur bei hinreichender Testkapazität". Wer einschlägige Symptome wie Husten und Fieber hat, muss also auch ohne Test als Corona-Patient gelten und sich zu Hause in Isolation auskurieren.

Um bei unzureichenden Testkapazitäten dennoch einen Überblick über die Epidemie zu haben, gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen müsste man diejenigen Erkrankten zählen, die im Krankenhaus behandelt werden. Denn deren Anzahl entscheidet darüber, ob das System überlastet ist. Außerdem lässt sich von ihnen ungefähr die Gesamtzahl der Infizierten hochrechnen.

Zum anderen könnte man überlegen, Tests nicht mehr nur bei Verdachtsfällen anzuwenden, sondern mit ihnen eine Stichprobe bei einer zufällig ausgewählten, repräsentativen Bevölkerungsgruppe durchzuführen - wie bei Wahlumfragen. So bekäme man eine aussagekräftige Einschätzung, wie groß der Anteil der Infizierten in der Bevölkerung bereits ist - und würde auch all jene erkennen, die zwar infiziert sind, aber keine Symptome haben.

© SZ vom 26.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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