Süddeutsche Zeitung

Coronavirus:Die Flucht der Pflegekräfte

Die Grenzen sind geschlossen, die Versorgung alter Menschen ist gefährdet. Viele Pflegerinnen kommen nicht mehr zu ihrem Arbeitsplatz. Die EU will gegensteuern.

Von Karoline Meta Beisel, Brüssel, Peter Münch, Wien, und Florian Hassel, Warschau

Für den normalen Personenverkehr ist der Wiener Flughafen längst geschlossen, doch zu Wochenbeginn sind dort zwei Maschinen aus Sofia und Temeswar (Timișoara) gelandet. In der verwaisten Ankunftshalle wurden 231 vorwiegend weibliche Pflegekräfte aus Bulgarien und Rumänien in Empfang genommen. Eilends eingeflogen waren sie zum Noteinsatz bei der häuslichen Pflege in Österreich. Insgesamt sind im Land 33 000 Pflegebedürftige auf eine 24-Stunden-Betreuung zu Hause angewiesen. In der überwiegenden Zahl wird dies durch Pflegekräfte aus Ost- und Südosteuropa sichergestellt, die für einen Turnus von jeweils zwei oder vier Wochen ins Land kommen. Die Grenzschließungen und Quarantänebestimmungen in der Corona-Krise lassen jedoch akute Sorgen wachsen vor einem Zusammenbruch dieses Systems.

Und das nicht nur in Österreich. In ganz Europa gefährdet die Pandemie die Versorgung alter Menschen zu Hause, weil Pflegekräfte nicht mehr zu ihnen können - oder das jeweilige Land fluchtartig verlassen haben Richtung Heimat.

Inzwischen hat auch die EU gemerkt, dass der Verkehr von Menschen für die Europäische Union ebenso wichtig ist wie der von Waren. "Tausende von Frauen und Männern müssen auf ihrem Weg zur Arbeit EU-Grenzen überqueren", sagte der für Beschäftigung zuständige EU-Kommissar Nicolas Schmit. "Wir sind gemeinsam dafür verantwortlich, dass wir ihnen keine Hindernisse in den Weg legen."

Österreich will, dass die Osteuropäer so lange wie möglich bleiben

Mit Leitlinien will die EU-Kommission die Mitgliedstaaten dazu bringen, den Grenzübertritt für diese Arbeiter zu erleichtern. Das gilt für Erntehelfer, medizinisches Personal - aber auch für Kinder- oder Altenpfleger. "Die Kommission bittet die Mitgliedstaaten dringend darum, schnelle Grenzverfahren für diese Arbeitskräfte zu ermöglichen", heißt es in den Leitlinien. So könnten die Mitgliedstaaten an den Grenzen etwa spezielle Spuren öffnen. Ein anderer Weg seien "besondere Aufkleber", die von benachbarten Staaten anerkannt würden. Gesundheitskontrollen dürften für ausländische Arbeitskräfte nicht strenger ausfallen als für Einheimische, die in denselben Berufen arbeiten.

Grundsätzlich hat etwa Österreich zwar mit seinen Nachbarländern Ausnahmeregelungen vereinbart für Menschen, die in Gesundheits- und Pflegeberufen arbeiten. Sie dürfen einreisen, wenn sie ein maximal vier Tage altes Gesundheitszeugnis vorweisen. Ein Problem ist jedoch, dass in den Heimatländern oft Testkapazitäten fehlen. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass die Pflegekräfte zum Beispiel in Ungarn und der Slowakei bei der Heimkehr in eine 14-tägige Quarantäne müssen, sofern sie auf der anderen Seite nicht nur im unmittelbaren Grenzgebiet eingesetzt waren. Besonders kompliziert ist die Lage für Pflegekräfte aus Rumänen und Bulgarien, weil Ungarn ihnen die Durchreise nach Österreich nicht gestattet. Deshalb wurde nun für sie die Luftbrücke eingerichtet mit zwei Maschinen von Austrian Arlines.

Nach der Landung müssen die dringend benötigten 231 Helfer nun jedoch erst einmal für zwei Wochen in Quarantäne. Danach sollen sie vor allem in Niederösterreich eingesetzt werden. Dort, so heißt es im Sozialministerium, will man sie "motivieren, so lange wie möglich zu bleiben, zumindest vier bis sechs Wochen". Eingeplant ist dafür ein Bonus auf den Lohn.

In Polen schätzt die Zeitung Gazeta Wyborcza, dass mindestens 300 000 Polinnen und Polen - es sind überwiegend Frauen - als Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern, Altenheimen und privaten Haushalten arbeiten. Dazu kommen Zehntausende weiterer Kräfte aus anderen Ländern Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas. Thomas Eisner vermittelt mit seiner Firma Eurovest Deutsche Pflegevermittlung aus dem bayerischen Rottendorf seit 17 Jahren Pflegekräfte aus Rumänien und Bulgarien, der Slowakei und Polen nach Deutschland; gewöhnlich sind es etliche Hundert jährlich. "Jetzt sind alle Länder geschlossen - nur mit Polen geht teilweise noch etwas", sagt er.

Doch Flüge und Züge verkehren nicht mehr, auch Busgesellschaften, die zuvor Polen zur Arbeit nach Deutschland brachten, fahren großteils nicht mehr; private Kleinbusbetreiber haben den Betrieb gleichfalls heruntergefahren. Dazu kommt, dass viele Polen, die bisher in Deutschland arbeiteten, selbst alte Eltern oder Verwandte in der Heimat haben: Diese sollen seit dem 1. April nicht mehr auf die Straße gehen und sind nun auf Hilfe ihrer Verwandten angewiesen.

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Die Anwerbung polnischer Kräfte wird dadurch erschwert, dass die polnische Regierung die Quarantänebedingungen verschärft hat: Jeder Pole, der ins Land zurückkehrt, muss in eine 14 Tage dauernde Quarantäne, ebenso alle Mitglieder seines Haushalt. Dies gilt auch für Pendler.

Viele polnische Ärzte, Krankenschwestern oder Pflegekräfte arbeiten bisher im benachbarten Brandenburg oder Sachsen und pendelten hin und her. Im Kreiskrankenhaus Prenzlau in der Uckermark traf die 14-Tage-Quarantäne-Pflicht für Pendler 22 polnische Ärztinnen und Ärzte - "die Hälfte aller Ärzte dort", sagt Sprecher Andreas Gericke.

Die Krisenlösung: Das Krankenhaus mietete für alle polnischen Ärzte Hotelzimmer an. "Alle polnischen Kollegen haben dieses Angebot angenommen, zunächst für die kommenden 14 Tage", sagt Gericke. "Danach müssen wir sehen, wie es weitergeht." Die Landesregierungen in Brandenburg und Sachsen zahlen nun tägliche Wohnzuschüsse für bisher pendelnde Pflegekräfte aus Polen oder Tschechien, damit sie zunächst in Deutschland bleiben können.

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SZ vom 03.04.2020/cku/cat
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