Innerhalb von nicht einmal vier Monaten hat ein bis dahin unbekanntes Virus die Welt, wie wir sie kennen, zum Erliegen gebracht. Über eine Million Fälle von Infektionen in inzwischen 180 Ländern sind bekannt, noch weit mehr Ansteckungen sind bis heute unbekannt. Das Virus füllt die Hospitäler und leert die Plätze, Menschen können nicht mehr zur Arbeit und sehen oft selbst Teile der Familie nicht. Bald wird jeder jemanden kennen, der erkrankt ist. Die Pandemie verändert das Leben auf eine Art und Weise, wie es die allermeisten Menschen nie zuvor erlebt haben. Ihre Folgen werden uns noch beschäftigen, wenn das Virus eingedämmt und ein Impfstoff entwickelt ist. Was würde man heute nicht alles geben für eine erstklassige und weltweite Viren-Forschung, eine bestens ausgestattete Weltgesundheitsorganisation und weniger kaputtgesparte Gesundheitssysteme.
Die Auswirkungen einer Pandemie sind in zahllosen wissenschaftlichen Aufsätzen und Katastrophenübungen mit großer Präzision vorausgesagt worden. Die Prognosen sind eingetroffen, teilweise werden sie von der Realität sogar übertroffen. Nur der Krieg hat ein ähnlich zerstörerisches Potenzial. Leider schenkte Hollywood dieser Bedrohung mehr Beachtung als viele Politiker. Die Bedrohung durch den Terrorismus wurde stets über-, das Risiko einer Pandemie stets unterschätzt.
Zu den nicht zu entschuldigenden Fehlern gehört, dass nicht einmal ausreichend Schutzkleidung beschafft und eingelagert wurde, Atemschutzmasken etwa. In Deutschland werden bis heute für den Krisenfall Öl und eine Lebensmittelreserve gehortet. Aber nur sehr wenig medizinisches Equipment für eine Pandemie.
Die wichtigste Währung in einer Pandemie ist Zeit. Um die Ausbreitung zu verlangsamen, muss schnell gehandelt werden. In Johnsons Großbritannien, Bolsonaros Brasilien und Trumps USA zahlen Menschen inzwischen mit kollabierenden Lungenflügeln für die Unfähigkeit ihrer Politiker. Deutschland gehört bislang zu jenen Ländern, denen es vergleichsweise gut gelingt, mit dieser Krise umzugehen. Man muss lange suchen, um ein Land zu finden, in dem man diesen Sturm lieber überstehen möchte als in Deutschland. Damit die Kurve der Infektionen sich abflacht, hat die Bundesrepublik in einer Art und Weise Freiheitsrechte eingeschränkt wie nie zuvor. Die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Versammlung und freie Berufsausübung. Ein Tabu nach dem anderen wird gebrochen, auch was die riesigen Summen für wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen angeht. In diesem Moment sollte der Staat dies tun dürfen, das gilt auch für den Fall, dass sich die Maßnahmen im Nachhinein als übertrieben herausstellen sollten. Ein Recht auf Irrtum muss man der Politik in dieser Lage zugestehen.
Keine Einschränkung der Freiheitsrechte, die jetzt beschlossen wurde, aber darf dauerhaft sein, die Regeln des Pandemie-Staates sind langfristig für jede Demokratie tödlich. Jede Debatte, die jetzt in der Eile nicht gründlich geführt werden kann, muss deshalb nachgeholt werden. Jedes Recht, das der Staat sich nun nimmt, muss auf den jetzigen Krisenfall beschränkt bleiben. Leider neigen auch demokratische Staaten dazu, erobertes Territorium nicht freiwillig wieder herzugeben, wie die nach dem 11. September verabschiedete Anti-Terror-Gesetzgebung in den USA lehrt. Wenn es heute sinnvoll erscheint, mithilfe einer App Bewegungsdaten von Infizierten auszulesen, kann eben diese Technologie morgen eine empfindliche Bedrohung von Bürgerrechten bedeuten.
In jeder Krise haben die Verantwortlichen zwei gleich bedeutende Aufgaben: die aktuelle Lage zu meistern und dafür zu sorgen, dass sich so etwas möglichst nicht wiederholt. Über die gemachten Fehler wird man also später noch reden müssen. Das gilt für China, das sich nun als Retter geriert und tatsächlich die Bedrohung durch das Virus zunächst vertuschte. Das gilt für die Verantwortlichen im österreichischen Ischgl, die die Skisaison erst viel zu spät beendeten. So wie die deutschen Behörden die Flüge aus dem vom Virus besonders hart betroffenen Iran.
Besiegt ist die Krankheit erst, wenn die Welt sie besiegt hat
Ganz oben auf der Liste aber steht die Frage: Warum tut sich die Weltgemeinschaft so schwer, zur Prävention einen Bruchteil jener Ressourcen aufzubringen, die jetzt in der Katastrophe mobilisiert werden müssen? Warum gelingt es nicht zu verhindern, dass aus Krisen Katastrophen werden? Der Virologe Christian Drosten beschreibt das Problem so: "Es liegt nun einmal kein Ruhm in der Verhinderung." Auch das wird man in Deutschland erleben: Wenn sich nun die Epidemie langsamer ausbreitet als zunächst befürchtet, weil die Politik alles in allem schnell und richtig gehandelt hat - dann werden einige Kritiker sagen, dass Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen doch gar nicht notwendig gewesen wären. Beweisen lassen wird sich das Gegenteil nie.
Die Auswirkungen von Covid-19 sind vermutlich groß genug, den bisher noch jede Seuche begleitenden, verhängnisvollen Zyklus aus Panik und Vergessen zu durchbrechen. Derzeit liegt das Zentrum in Europa und den USA, den reichsten Teilen der Welt. Schreckliches wird folgen, wenn das Virus mit aller Wucht jene Länder erreicht, in denen der Rat, sich möglichst oft mit Seife die Hände zu waschen, reiner Hohn ist. Ihnen in dieser Not so gut es geht zu helfen, ist nicht nur menschliche Pflicht, sondern auch purer Eigennutz. Denn Viren kennen keine Grenzen. Besiegt ist diese Krankheit erst, wenn die Welt sie besiegt hat.
Bill Gates, einer der frühen und ungehörten Mahner vor den Gefahren einer Pandemie, hat sich diese Woche zu Wort gemeldet. Er verlangt, dass schon jetzt neue Fabriken für Impfstoff gebaut werden, damit auch die Armen schnell eine Dosis bekommen. Dieses Mal sollte man ihm zuhören.