Süddeutsche Zeitung

Merkel im Gespräch mit Bürgern:"Es gibt ja schon komische Sachen"

In vier digitalen Bürgerdialogen spricht die Kanzlerin mit Studierenden, Polizisten und Pflegepersonal - und erfährt dabei manch Überraschendes. Sie reagiert locker und nahbar und lässt sich auch mal beeindrucken.

Von Nico Fried, Berlin

Kurz vor Schluss fällt auch der Kanzlerin nicht mehr viel ein. Da erzählt eine Studentin, dass sich Humanmediziner an ihrer Universität umsonst auf Covid-19 testen lassen könnten, während sie als Zahnmedizinerin selbst bezahlen müsse. Und das, obwohl die junge Frau sogar an Patienten arbeitet und ihre Corona-App schon Alarm schlägt. "Sie müssten doch in Quarantäne sein", sagt Merkel verdattert. Doch die Studentin erwidert, es werde erwartet, dass sie weiter arbeite, mit Schutzmaske eben, die bezahle sie auch selbst. "Es gibt ja schon komische Sachen", sagt da die Kanzlerin. "Also, das notieren wir auch noch."

Es sind einige Notizen zusammengekommen in den vier Bürgerdialogen, die Merkel seit dem 12. November geführt hat. Insgesamt sechs Stunden hat sie sich Zeit genommen, jeweils 90 Minuten digitale Diskussion mit bis zu 15 Teilnehmern, mit Auszubildenden und ihren Ausbildern, mit Pflegebedürftigen und ihren Pflegern, mit Polizisten und zuletzt mit Studenten und Dozenten. Weil sie wegen der Pandemie kaum im Land unterwegs sein kann, hat Merkel diesen Weg gewählt, um zu erfahren, wie Corona das Leben der Bürger verändert hat. Und die Bürger sollten ihr auch sagen, "wo wir was richtig und wo wir was noch nicht so richtig machen".

Es sind Geschichten von jungen Menschen und ihren Zukunftssorgen, die Merkel hört, aber auch von Arbeitgebern, die ihren Lehrlingen einen Computer mitsamt Internetanschluss in die Wohnung stellen, um die Ausbildung fortsetzen zu können. Geschichten von Polizisten, die auf Demonstrationen beschimpft wurden, aber auch von Beamten, die stolz auf die Kameradschaft in ihrer Staffel sind. Geschichten von Senioren, die sich wie in einem "Gefängnis ohne Gitter" fühlten, solange sie im Frühjahr keinen Besuch empfangen durften, aber auch von Pflegern, die sich liebevoll um verstörte Patienten kümmerten.

Wenn Merkel wahr macht, was sie alleine in der letzten Diskussionsrunde ankündigt, dann können Bildungsministerin Anja Karliczek wie auch einige Ministerpräsidenten alsbald mit einem Anruf der Kanzlerin rechnen. Warum läuft die Bewilligung von Überbrückungshilfen für Studenten so bürokratisch? Warum gibt es in manchen Ländern Online-Prüfungen und in anderen nicht? Warum gewährt die eine Universität eine Verlängerung der Regelstudienzeit, die andere nicht? Allerdings kann sich umgekehrt auch Merkel noch auf Post einstellen, nachdem sie manche Teilnehmer ausdrücklich aufgefordert hat: "Schreiben Sie mir das mal."

"Und wenn nicht, schreiben Sie mir"

Da ist zum Beispiel der junge Mann, der Elektroniker werden will, aber wegen Corona fürchtet, dass die schriftliche Prüfung ausfällt. Abdul erzählt, wie er aus Afghanistan gekommen ist; wie er seinen Weg in Deutschland gemacht, neue Freunde und einen Ausbildungsplatz gefunden und die praktische Prüfung bereits mit voller Punktzahl bestanden hat. Die Kanzlerin lobt, wie gut er schon Deutsch gelernt habe, und fragt dann in ihrer Sprache: "Was ist Ihnen am schwersten gefallen an den deutschen Kumpels, so vom Anderssein?" Am Ende zeigt sich Merkel zuversichtlich, dass er die Prüfung schreiben könne. "Und wenn nicht, schreiben Sie mir."

Die Azubis haben sich daran gewöhnt, im Home-Office zu arbeiten oder die Berufsschule nur in verkleinerten Klassen zu besuchen. Manche monieren die schlechte digitale Infrastruktur, vor allem auf dem Land. Das ist ein Defizit, das sich wie ein roter Faden durch alle vier Bürgerdialoge zieht und schlechte Verbindungen in Mecklenburg-Vorpommern ebenso offenbart wie in der Eifel und im Hunsrück. Da habe die Politik geschlafen, sagt ein Student ganz direkt, worauf Merkel antwortet: "So eine Gesellschaft wird immer wieder neue Dinge entdecken, die sie noch nicht so gut bearbeitet hat."

Andererseits berichtet eine Dozentin der Uni Hamburg auch von einer Studie, wonach die Ad-hoc-Digitalisierung 2020 "erstaunlich gut gelaufen" sei. Ihre Sorge sei, dass nach Corona alles wieder zurückfalle in den Status quo vor der Pandemie, weil es billiger sei und irgendwie doch auch funktioniert hat. Mit dieser Skepsis rennt sie bei Merkel offene Türen ein. Getreu ihrer Definition von Politik als einem nie endenden Prozess fasst die Kanzlerin es so zusammen: "Wir machen gerade sehr schnelle Fortschritte, sind aber immer noch hintendran."

Alles nur Show?

Alle vier Bürgerdialoge werden per Livestream im Internet übertragen. Ist das nun alles nur eine Show: die Kanzlerin als Kümmerin? Oder ist das Interesse echt? Merkel zeigt sich jedenfalls glaubhaft neugierig, hört geduldig zu, fragt nach und fordert immer wieder dazu auf, Kritik oder Wünsche vorzubringen. Viele der Gesprächspartner, die allesamt nicht vom Kanzleramt ausgesucht wurden, scheinen sich ernst genommen zu fühlen, viele danken für die Zeit, die sich Merkel freigeschaufelt hat. Als Merkel erklärt, warum sie vulnerable Gruppen nicht vom gesellschaftlichen Leben ausschließen wolle, nur damit der Rest der Bevölkerung wieder in den Alltag zurückkehren könne, sagt eine junge Frau im Rollstuhl mit brüchiger Stimme, das bedeute ihr viel.

Merkels Ton in der Pandemie ist immer mal wieder kritisiert worden. Zu pädagogisch, zu bevormundend, zu hart, zu pessimistisch. In den Bürgerdialogen zeigt sich die Kanzlerin locker und nahbar. Gelegentlich rutscht ihr ein flapsiger Spruch raus: "Grüße Sie nach Passau", sagt sie zu einem Studenten, "Sie sind ja auch ein ziemlicher Hotspot."

Aber nach der Erzählung einer Frau, die ihren an Demenz erkrankten Mann pflegt, dankt sie einfach nur für "den unglaublich berührenden Bericht und Ihre so menschliche Einstellung". Und als sie gegenüber einem älteren Herren tatsächlich mal im Stile einer übervorsichtigen Krankenschwester doziert, er wisse ja, dass er immer nur schön mit Abstand spazieren gehen solle, knurrt der Mann nur leicht genervt: "Ja, klar."

Für Polizisten hat sie "allergrößte Hochachtung"

Im Gespräch mit den Polizisten erfährt Merkel, was es heißt, im Land das durchzusetzen, was die Politik beschließt. Eine Beamtin aus Erfurt sagt, oft müsse sie "den Leuten erklären, dass wir die Verordnung nicht gemacht haben, sondern nur umsetzen". Eine Kollegin wurde verletzt, als sie in Göttingen von Bewohnern eines unter Quarantäne gestellten Hauses angegriffen wurde.

Und ein weiterer Beamter berichtet, wie er auf einer Demonstration von Kritikern der Regierungspolitik angespuckt wurde, begleitet von dem Satz: "Ich hab Corona, jetzt hast du's auch." Die Polizisten hätten ihre "allergrößte Hochachtung", versichert Merkel. "Wir diskutieren am Tisch", fügt sie mit Blick auf die Debatten mit den Ministerpräsidenten hinzu. "Sie diskutieren draußen unter Realbedingungen."

Manchmal kann man auch beobachten, wie Merkel zumindest nicht unbeeindruckt bleibt von immer wiederkehrenden Forderungen. Zum Beispiel in der Runde zur Pflege. Der Leiter einer Sozialstation sagt, man brauche mehr Leute, die Reformen von Gesundheitsminister Jens Spahn könnten nur eine erste Grundlage sein. Merkel sagt dazu nichts.

Einige Minuten später bekräftigt die Bewohnerin eines Altenheims, es seien zusätzliche Pfleger nötig. Deshalb wäre es schön, "wenn wir mehr Aufmerksamkeit von der Obrigkeit bekämen." Nun sieht sich die Obrigkeit zu einer ersten Rechtfertigung veranlasst und antwortet, man habe ja das Schulgeld für die Ausbildung in Pflegeberufen abgeschafft und einen Mindestlohn eingeführt.

Noch eine weitere Forderung nach mehr Personal später ist Merkel dann schon bereit einzuräumen, dass es zwar wichtig sei, Pflegekräfte zu loben. "Aber mit Recht sagen die, die Pflegearbeit machen, dass sie außer Sonntagsreden auch reale Verbesserungen brauchen". Und noch ein bisschen später wird daraus aus dem Munde der Kanzlerin sogar der Satz: Pflegekräfte "müssen ordentlich bezahlt werden, und es muss verlässliche Arbeitsbedingungen geben." Wenn das so weitergeht, schreibt Angela Merkel der Bundeskanzlerin bald selbst mal einen Brief.

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