Süddeutsche Zeitung

Corona-Verordnungen:Der Wind vor Gericht ist rauer geworden

Das öffentliche Leben so radikal einzuschränken wie im Frühjahr, dürfte der Politik schwerfallen. Die Gerichte können schlecht begründete Maßnahmen schnell wieder kassieren.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Nun ist das böse Wort wieder im Zentrum der politischen Diskussion angelangt, entweder in seiner Light-Version, die immerhin Schulen und Kitas geöffnet ließe, oder kurz und konsequent, wie Marcel Fratzscher vorschlägt, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Der Lockdown, also das Herunterfahren des öffentlichen Lebens, könnte wieder aus dem Instrumentenkasten der Pandemiebekämpfung hervorgeholt werden. War ja auch im Frühjahr möglich, trotz aller Härten, wer sollte die Entscheidungsträger an einer Neuaufführung des beklemmenden Stücks hindern?

Die Antwort auf diese Frage zeichnet sich bereits seit einigen Wochen ab: Die Gerichte könnten die Politik daran hindern. So ängstlich sie im Frühjahr gravierende Einschränkungen der Freiheit gebilligt haben, so beherzt haben sie in jüngster Zeit zugepackt. Ob in Schleswig oder Mannheim, in Greifswald oder Hannover, die Gerichte haben den Eilanträgen gegen die Beherbergungsverbote nahezu flächendeckend stattgegeben. In Berlin wurde zudem jüngst die Sperrstunde ab 23 Uhr gekippt, in Minden beanstandete ein Gericht eine Verfügung zur Isolation von unter Infektionsverdacht stehenden Pflegeheimbewohnern, in Heidelberg wurde sogar die Maskenpflicht in der Altstadt außer Vollzug gesetzt - weil sie auch für Zeiten und Orte gelten sollte, an denen eigentlich nichts los ist. Gewiss, nach wie vor haben viele Verordnungen Bestand; aber der Wind vor Gericht ist rauer geworden.

Für die Beratungen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten an diesem Mittwoch bedeutet dies: Ob man nun Gaststätten schließt, Veranstaltungen untersagt oder die Maskenpflicht ausweitet, jede Maßnahme steht unter einem nunmehr ausgehärteten Gebot der Verhältnismäßigkeit. Das heißt zuallererst, dass jede neue Regel einen echten Nutzen für die Pandemiebekämpfung aufweisen muss.

Beherbergungsverbote waren nicht plausibel

Die Beherbergungsverbote sind deswegen reihenweise gefallen, weil die Regierungen nicht plausibel machen konnten, dass im Frühstücksraum des Hotels oder im Großraum des ICE nennenswerte Infektionsrisiken lauern. Das Land Baden-Württemberg hatte vor dem Verwaltungsgerichtshof argumentiert, der bundesweite Anstieg der Infektionszahlen rechtfertige die Maßnahme.

Solche pauschalen Behauptungen werden von den Gerichten aber nicht mehr akzeptiert. Erstens, weil das Wissen um die Verbreitung des Virus sehr viel präziser ist als vor einem halben Jahr. Man weiß, was wirkt und was nicht. Zweitens, weil viele Hoteliers, Gastronomen oder Kulturveranstalter nach diesen zermürbenden Monaten einer Insolvenz deutlich näher gekommen sind. Das Quantum an Grundrechtsbeschränkungen, die man ihnen noch zumuten kann, ist sehr viel kleiner geworden.

Ein flächendeckender, undifferenzierter Lockdown wird damit juristisch nicht haltbar sein. Damit aber drängt sich eine andere Frage auf. Wenn jedes Gericht nur noch isoliert über Sinn und Unsinn des nächtlichen Alkoholausschankverbots urteilt, das ihm gerade auf dem Schreibtisch gekommen ist, oder über die Absage einer Jobmesse oder die Reichweite einer Quarantäneanordnung: Wird damit nicht jeder Versuch einer politischen Gesamtstrategie gegen Corona durchlöchert? Indem die Justiz immer wieder einzelne Bausteine herausbricht, ohne das gesamte Panorama zu sehen? Denn eine Strategie könnte, nur zum Beispiel, auch so aussehen, dass man das Reisen ein wenig herunterbremst, auch wenn sich der Anstieg der Zahlen damit nur moderat verringern lässt - weil man damit die Chancen erhöht, Schulen und Kitas geöffnet zu lassen.

Die Politik muss Maßnahmen gut begründen

Hat also nun die Justiz das Sagen, wo eigentlich die Politik gefragt ist? Sollte das so sein, dann wäre es jedenfalls nicht die Schuld der Gerichte. Nach den Worten von Klaus Ferdinand Gärditz, Professor für öffentliches Recht in Bonn, ließen sich Reisebeschränkungen oder Sperrstunden sehr viel besser rechtfertigen, wenn die Regierungen plausibel machten, dass man damit noch Schlimmeres vermeiden könne, wie etwa die sozial spalterischen Schulschließungen mit ihren gravierenden Nachteilen für Kinder aus bildungsfernen Haushalten.

Die Begründungslast liegt also bei Politik und Verwaltung - die Gerichte prüfen lediglich, ob die Begründung trägt. Die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung müssen den Gerichten also mit dem Blick aufs große Ganze deutlich machen, warum sie zu welchen Maßnahmen greifen. Das Gesamtkonzept muss sichtbar werden. Davon war bei den Beherbergungsverboten jüngst wenig zu spüren, da war eher das aktionistische Prinzip "Viel hilft viel" am Werk.

Für Stephan Rixen, der in Bayreuth unter anderem Gesundheitsrecht lehrt und dem Deutschen Ethikrat angehört, kommt damit eine politische Institution ins Spiel, die in der Pandemie bisher nur eine Nebenrolle spielt: die Landesparlamente. Denn die Corona-Verordnungen werden in den Ministerien der Länder geschrieben. Aber der originäre Ort, um über grundlegenden Konflikte zu debattieren, sei das Parlament: Wie weit dürfen Besuchsverbote in Pflegeheimen reichen? Was darf man den Mittelständlern noch zumuten? Wie sind, allgemeiner gesprochen, Bildung und Wirtschaft gegeneinander auszubalancieren?

Rixen schweben Pandemie-Ausschüsse mit Fachpolitikern vor, die den Boden für ein Gesamtkonzept bereiten. "Denn wenn die Gerichte so ein Gesamtkonzept nachvollziehen können, werden sie nicht unbedingt strenger urteilen, sondern eher den Spielraum der Exekutive achten."

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