Immer, wenn es in den vergangenen Wochen um die Zukunft ging, benutzte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ein griffiges Schlagwort: "Neue Normalität", sagte er. Zur neuen Normalität wird es gehören, auf Abstand zu leben. Normalität werden strenge Hygienevorschriften sein, Plastikplatten in Supermärkten, Mundschutz in den Bussen, kein unbeschwertes Feiern in überfüllten Räumen, nicht einmal ein Handschlag - und das alles für sehr lange Zeit. Die "neue Normalität" ist ein Euphemismus. Was Spahn meint, ist ein Leben im Ausnahmezustand.
Ein "neuer Alltag" soll Spahn zufolge nun auch in Deutschlands Krankenhäusern beginnen, mit einem schrittweisen Neustart der verschobenen Operationen. Intensivbetten, die für den Fall eines plötzlichen Anstiegs der Zahl an schwer Covid-19-Erkrankten freigehalten werden, soll es zwar weiterhin geben, aber in einem geringeren Umfang als bisher. Für die Patienten und Ärzte, die nun viele Wochen darauf warten mussten, dass eine aufgeschobene Fuß-Operation oder eine anberaumte Hüftprothese wieder möglich wird, ist das erst einmal eine gute Nachricht. Auch wenn es bei solchen Eingriffen nicht um Leben und Tod geht: Die Belastung für die Patienten, Schmerz und Ungewissheit auszuhalten, ist immens.
Mit Sorge hatten Mediziner auch beobachtet, dass seit Beginn der Pandemie weniger Menschen mit Herzinfarkten oder Schlaganfällen in die Kliniken kamen - womöglich, weil sie zögerten, in so einer Zeit ins Krankenhaus zu gehen. Nicht das Virus selbst, sondern die Angst vor ihm könnte auf diese Weise schlimmstenfalls Leben kosten. Spahns Signal, dass die Menschen wieder in die Kliniken zurückkommen sollen, ist deshalb besonders wichtig.
Doch die neue Normalität im Krankenhaus hat, ähnlich wie die "Normalität" im Alltag, ganz klare Grenzen: Wenn die Infektionszahlen erneut steigen, müssen Kliniken, laut Spahns Konzept, reagieren und die Betten wieder frei räumen. All die Einschränkungen, die für das Leben der Menschen gelten und galten, dienten schließlich nur einem Ziel: Die Kapazitäten des Gesundheitswesens nicht zu überlasten und dramatische Zustände für Ärzte, Pfleger und Patienten, so wie in Italien oder New York, zu vermeiden. Die Kanzlerin machte kürzlich eine bedrohliche Rechnung auf: Sollte jeder Corona-Infizierte im Schnitt 1,3 Menschen anstecken, würden die deutschen Intensivbetten schon im Juni nicht mehr ausreichen, bei 1,2 Ansteckungen pro Person im Juli, bei 1,1 im Oktober. Dass dieser Wert schon heute wieder um einige Nachkommastellen auf 1,0 stieg, sollte deshalb sehr zu denken geben.
Bislang hat ein groß angelegter Lockdown des öffentlichen Lebens für die Kontrolle der Infektionszahlen gesorgt und damit auch für Ruhe und Sicherheit in der Medizin. Eine wilde Mischung aus Wiedereröffnungen von Möbelhäusern und Einkaufszentren, die nun beginnt, bedeutet dagegen Kontrollverlust. Die Gefahr, Krankenhäuser an ihre Grenzen zu bringen, beginnt jetzt erst. Die neue Normalität muss eine der großen Vorsicht sein - oder eine, in der Behandlungsgrenzen im Gesundheitswesen bewusst in Kauf genommen werden. Dies ist keine leichte Entscheidung für die Politik. Am Ende gibt es für sie nur eine Gewissheit: Dass die Gesellschaft lernen muss, mit der Unsicherheit zu leben.